Festivalbericht zum 14. Wave-Gotik-Treffen (2005)

ASP

Das Make-up ist nach langer Kleinarbeit und mit viele Liebe zum Details aufgetragen. Die frisch gefärbt, geschnittenen und toupierten Haare sitzen perfekt. Das prächtigste und extravaganteste Outfit, welches der Kleiderschrank her gab – oder gar komplett neue Kleidungsstücke – wurden in Form gebracht. Alles ist an seinem Platz und wird nun mit stolz geschwellter Brust und im festen Glauben an die eigene Ausdrucksstärke und mit unantastbarem Selbstbewusstsein den in großer Zahl am Wegesrand in Position gerückten Fotografen präsentiert. Herzlich Willkommen bei der diesjährigen Verleihung der begehrten Academy Awards!? Von wegen. Ein Grußwort gebührt einzig und allein den Besuchern, Anwohnern und sonstigen Interessierten am 14.Wave-Gotik-Treffen zu Leipzig.

 

Atrocity

Chamber

Ein kleines bisschen Flair der Glitzerwelt – wenngleich mit deutlich andersartig gewichteten Schönheitsidealen und selbstauferlegter Kleiderordnung – schwingt schon mit, wenn man die Trägerinnen und Träger der aufwendigen Roben die Wege an der Agra entlang flanieren sieht. Das ständig präsente Blitzlicht unzähliger Digitalkameras tut da sein übriges. Auch 2005 zog das WGT wieder rund 20.000 schwarze Seelen nach Leipzig um gemeinsam die größte dunkel Zusammenkunft dieser Art weltweit zu zelebrieren. Eröffnet wurde das Festival am Nachmittag des Freitag den 13 (passender kann das Datum für ein solches Event nicht fallen!) von den Newcomern ATARGATIS, dem Nebenprojekt von Darkwell Sängerin Stephanie Luzie. Auch wenn FLOWING TEARS ihren Auftritt kurzfristig absagen mussten und der Zeitplan dadurch etwas umgestaltet werden musste, konnten die Österreicher von VISIONS OF ATLANTIS recht pünktlich ihren Auftritt beginnen. Schwerpunktmäßig wurde, wie schon auf der zurückliegenden Tour mit Elis das Material des aktuellen Albums „Cast Away“ dargeboten. Die Hymnenhaften, symphonischen Songs wussten dem Publikum zu gefallen und so stieg bei Band und Publikum gleichermaßen das Stimmungsbarometer. Davon profitierte auch die deutsch-norwegische Formation MIDNATTSOL, die ihren erst dritten Auftritt überhaupt im Rahmen des WGT bestritt. Dabei konnte die Band überzeugend für sich und ihr Debüt „Where Twilight Dwells“ werben, ein Album, welches Texte in deutscher und norwegischer Sprache enthält. Beflügelt durch die moralische Unterstützung ihrer großen Schwester Liv Kristine, die zeitweise von der 3. Reihe aus Carmen und ihre Mitstreiter(in) anfeuerte gelang es Midnattsol einen soliden Auftritt hin zu legen – Mission erfüllt. Apropos „erfüllt“: Im Anschluss erfüllten ATROCITY standesgemäß alle Klischees, welche die Auftritte der Musiker um Multitalent Alex Krull nicht nur zu Zeiten von „Werk 80“ auszeichneten. Harte Gitarren, Krulls charismatische Gesangs- und Growlpassagen (stellenweise gemeinsam mit Ehefrau Liv Kristine vorgetragen), dazu Coverversionen einiger großer 80er Gassenhauer und – man erinnere sich an das Cover des damals mehr als innovativen „Werk 80“ Albums – viel nackte Haut. Atrocity feuerten aus allen Rohren Hits wie „Deutschmaschine“, „Send me an Angel“, „Wild Boys“ oder auch „Rage Hard“ ins Rund der Parkbühne. Dabei beschränkten sich die Ludwigsburger nicht ausschließlich auf ihre Interpretationen der Klassiker anderer Künstler, sondern bauten mit „Blut“ und der letzen Single „Cold Black Days“ auch neue Songs in ihre Playlist ein. Als anschließend die Norweger TRISTANIA den finalen Auftritt des ersten Abends an der Parkbühne einläuteten hatte sich das im Clara Zetkin Park gelegene Rund schon etwas geleert. Die Hits wie „World of Glass“ oder das neue „Libre“ vermochten es dabei nicht das Stimmungsniveau auf dem Stand von Atrocity zu halten. Dafür sind speziell die neueren Kompositionen wohl zu progressiv angehaucht. Aber es ist auch nicht gerade einfach gegen einschlägig bekannte 80er Klassiker anzukommen. Zumal sich viele Besucher auch schon auf den Weg in die Agra gemacht hatten um APOPTYGMA BERZERK und natürlich DIE KRUPPS zu sehen.

 

Darkwell

Diary of Dreams

Am Samstag Mittag war das Haus Auensee überraschend gut besucht als die Alpenländer von DARKWELL schon gegen 15.15 Uhr den zweiten Tag mit ihrem Gothic Metal eröffneten. Keine schlechte Entscheidung der Anwesenden sich an diesem Tag dort einzufinden, denn anders als die Besucher bei AND ALSO THE TREES, die wenig später auf der Parkbühne einen soliden, aber nicht unbedingt mitreißenden Aufritt hinlegten, blieben die Schwarzen Seelen im Haus Auensee vom Dauerregen unbeeindruckt und vor allem trocken. Doch auch das schlechte Wetter konnte den Ansturm zum Auftritt von ASP (und den folgenden Mortiis, Das Ich und Zeraphine) nicht abbrechen lassen. Endlose Menschenschlangen bildeten sich an den Eingängen zum - für einen Act wie ASP eindeutig zu kleinen - Veranstaltungsort, der schon lange bevor der Frankfurter die Bühne betrat keinen Platz mehr für weitere Besucher bot. Begeistert wurde dann von den Anwesenden nicht nur die Bühneshow und das Greatest Hits Feuerwerk mit Hymnen der Marke „Weltunter“, „Sing Child“ oder dem Überhit „Ich will brennen“ sowie den neuen Ohrwürmern „Schwarzes Blut“ und „Tiefenrausch“ aufgenommen, nein, auch der speziell für das WGT angesetzte Merch-Sonderverkauf, der u.a. Shirts für 10 Euro und weiter Angebote offerierte, fand reißenden Absatz. Und von Regen und Sturm lässt sich ein ASP selbstredend die Stimmung nicht verhageln, denn der großgewachsene Hesse weiß ‚wer einen Schirm hält kann zwar nicht mitklatschen, aber rhythmisch mit selbigem wippen’. Was für ein Anblick. Indes hatten im Haus Auensee die deutschen Metaller von DARKSEED die Bühne geentert. Zu deren Musik ließ sich vorzüglich das gepflegte Haupthaar schütteln und auch der Hallensound war – wie eigentlich bei jedem Künstler, der im Rahmen des WGT eine Bühne betrat – gewohnt druckvoll und klar.

 

Entwine

Lab

Zu Beginn des folgenden skandinavischen Band-Quartetts gab es noch immer freie Plätze im atmosphärischen, aber etwas ungünstig gelegenen Haus Auensee. Dennoch sorgten die Finnen von ENTWINE für einige Bewegung im Publikum, denn Gothic Rock der Marke Him verkauft sich dieser Tage nicht nur in Deutschland wie geschnitten Brot. Mit Songs wie „Time of Despair“ oder der Single „New Dawn“ wussten Entwine nicht nur den anwesenden Landsleuten zu gefallen und so wurde das Sextett standesgemäß abgefeiert. Eines meiner persönlichen Album Highlights in diesem Jahr ist „Where Heaven Ends“, das neue Album der ebenfalls aus Finnland stammenden LAB. Diese hatten ein nettes Paket aus Songs vom zurückliegenden Album „Devil is a Girl“ und genanntem neuen Longplayer mitgebracht und boten Songs wie das melancholische „Hardcore“, das mächtig rockende „Goddess“ oder auch den Hit „Machine Girl“. Einzig das mechanisch rockende „Beat the Boys“ wurde (zumindest von mir) vermisst. Auch wollte der Funke trotz gewohnt exzessiver Performance von Frontfrau Ana nicht so recht überspringen. Daniel Brennare und seine Band LAKE OF TEARS sowie die darauf folgenden, sehr einflussreichen TIAMAT (unter anderem zählt Marco von Xandria eben Tiamat zu seinen wichtigsten Einflüssen) konnten sich dann wieder über regeren Zulauf und auch gesteigerte Stimmung freuen. Warum sich die zu später Stunde in der Agra auftretenden VISAGE noch immer Konzerte und neue Songs antun wissen wohl nur die Musiker selbst. So quälte sich die Band durch ein fast nur mit Höflichkeitsapplaus bedachtes Set um dann im Zugabenteil endlich den (einzigen) sehnsüchtig erwarteten Hit „Fade to Grey“ mit dem nun merklich erwachten Publikum standesgemäß zu zelebrieren.

 

Midnattsol

Markus und ASP

Am Sonntag stellten sich dem geneigten Besucher diverse Frage. Eine war mit Sicherheit ‚Warum spielt ein Act wie STAUBKIND in einem Schuhkarton wie der Moritz Bastei?’. Endlose Schlangen und merklich angefressene Besucher, denen der Eintritt verweigert wurde können eigentlich nicht im Interesse der Veranstalter sein. Aber natürlich kann nicht jeder Künstler in den größten Hallen spielen. Des weiteren bleibt auf ewig ungeklärt warum Sängerin MiLú nach einer mehr als undankbaren Umbaupause und mit entsprechender Verspätung das Publikum des „M’era Luna“ bei ihrem Konzert willkommen hieß. Aber hey: So etwas macht menschlich und schaffte Sympathie. Die Plätze mit Sicht auf die Agra-Bühne waren unterdes schon am früher Abend bei DIARY OF DREAMS so rar gesät wie Schneestürme im August und so fragt man sich unweigerlich ob die große Messehalle nach den Auftritten von UMBRA ET IMAGO und THE HUMAN LEAGUE überhaupt noch steht.

 

Omnia

Penumbra

Am abschließenden Festivaltag, dem Montag konnte man dann Entwarnung geben. Die Halle stand noch an ihrem angedachten Platz und so konnte das folklastige Tagesprogramm mit VAN LANGEN und OMNIA, deren Stücke übrigens oft rein instrumental dargeboten werden, eröffnet werden. Die deutschen Newcomer REGICIDE wirkten da schon etwas fehlplatziert zwischen all den Folk- und Mittelalterbands. Dennoch wurden die Songs vom Debüt „Viorus“ gut aufgenommen, auch wenn die Songsauswahl nicht nur in Simones Augen die größten Kracher vermissen lies. Auf genannte Kracher mussten die Fans von QNTAL an diesem Tag nicht verzichten. Das deutsche Trio um Sängerin Syrah zeigte warum ihr mittelalterinspirierter, sphärisch-hypnotischer Sound seit dem ersten Album (1992) solchen Anklang findet. Dabei beschränkte man sich auf einen minimalistischen Bühnenaufbau, schließlich soll bei Qntal die Musik für sich selbst sprechen. Und das tut sie.

 

Qntal

Regicide

Für eine positive Überraschung sorgte in meine Augen die folgende Formation SKELETAL FAMILY. Die Briten rechtfertigten ihren guten Startplatz an diesem Tag mit ihrem alternativen Rock, der auf wundersame Weise kantig und doch eingängig, simpel und doch komplex daher kommt. Dabei konnten vor allem die aktuellen Titel wie „Lies“ oder „Waiting“ vom Album „Sakura“ angenehm überraschen. Weniger überraschend war dass CHAMBER – das schwarze Kammerorchester – einmal mehr das Publikum mit ihren Kompositionen zu verzaubern wusste. Max und seine Mitstreiter konnten dabei auf ein Arsenal von starken Songs zurückgreifen, welches in Form von „Moonchild“, „I Hate falling in Love“ und natürlich des obligatorischen Rausschmeißers „Engel“ (Rammstein) ohne Angst vor einem Blindgänger haben zu müssen. Auch dem kürzlich überraschend verstorbenen Lichttechniker Holger Vogt wurde musikalisch gehuldigt, wobei die vorausgegangene emotionale Ansage von Marcus Testory jedes kleinste Geräusch im Rund der Parkbühne zum verstummen brachte und die Besucher dabei - sichtlich überrascht - indirekt an ihre eigene Sterblichkeit erinnert wurden. Wo Licht ist da ist nun mal immer auch Schatten...

 

Skeletal Family

Tristania

Das Resümee für das diesjährige Wave-Gotik-Treffen fällt natürlich dennoch positiv aus. Über 20.000 Besucher aus 30 Ländern (unter anderem auch Mexiko und Japan) können einfach nicht irren. Dabei sollte noch einmal betont werden, dass es im Rahmen der Zusammenkunft wie gewohnt friedlich blieb und alle Besucher, egal ob Goth, Punk, Metaller oder Normalo friedlich miteinander ihre Helden und natürlich verdienterweise auch sich selbst feierten. Auch wenn der Wettergott 2005 ein wenig griesgrämig gelaunt war und den Treffen-Besuchern mehr als einen Regenguss bescherte blieb die Stimmung gut, was zu Teilen auch den freundlichen und stets hilfsbereiten Leipzigerinnen und Leipzigern zu verdanken ist, die, um es mit den Worten von ASP zu sagen „an die Schwarzen gewöhnt sind“. Man kann davon ausgehen, dass die Anhänger der dunklen Szene auch 2006 wieder herzlich willkommen sind und das nicht nur weil Hoteliers, Taxiunternehmen und Einzelhändler zu Pfingsten den Umsatz des Jahres machen. Wenn diverse Händler und Dienstleister unabhängig voneinander spontan die „Höflichkeit und Freundlichkeit“ der „interessant gekleideten Menschen“ loben, so kann dies kein Zufall sein. Die rund um das WGT aktiven Sanitäter hatten ganz nebenbei überraschenderweise sehr wenig mit den einschlägigen „Festivalverletzungen“ zu schaffen. Dafür gab es eine auffällige Vielzahl an Kreislaufzusammenbrüchen zu vermelden, die nicht etwa durch Flüssigkeitsmangel oder Hitzschlag (wie auch bei dem größtenteils regnerischen Wetter) verursacht wurden, sondern durch „zu eng geschnürte Korsetts“, wie ein Mitarbeiter des Rettungsdienstes zu berichten wusste. Dass diese Tatsache aber zu einer Veränderung des vorherrschenden Dresscodes für das kommende Jahr führt wird wohl niemand ernsthaft in Erwägung ziehen.

 

Visions of Atlantis

Text und Fotos : Markus Rutten – www.sounds2move.de / 06.2005

Link : www.wave-gotik-treffen.de