Festivalbericht zum 20. Dour Festival 2008

 

Wer noch nie auf einem belgischen Festival war, sollte sich auf einiges gefasst machen: Der Tag auf dem ausverkauften Dour Festival, mitten in der belgischen Provinz, beginnt erst gegen frühem Abend und endet in den Morgenstunden. Musik gibt es von 12 bis 5 Uhr. Insofern man es mittags denn aus dem Zelt schafft. An Schlaf ist vier Tage und Nächte kaum zu denken. Wie auch bei 200 Bands und DJs in nur vier Tagen auf sechs Bühnen? Also: Vorschlafen, ihr lieben Deutschen. Menschen mit geruchsempfindlicher Nase sollten einen weiten Bogen um belgisches Gebiet machen. Der belgische Mann an sich uriniert gegen alles, was nur irgendwie fest im Boden verankert zu sein scheint (Bäume, Zelte, bevorzugt: Zäune); die Figur des „Manneken Pis“ stammt nicht von ungefähr aus diesem Land. Wer dieses olfaktorische Phänomen schon einmal im Sommer erleben durfte, ist doch ein wenig froh, dass der Wettergott im Juli 2008 immer wieder Regen und kalte Winde über das weitläufige Festivalgelände, das von 144.000 Menschen bevölkert wird, schickt. Frau sollte des Weiteren wissen, dass sie sich darauf vorbereiten sollte, den lieben langen Tag von Fremden „très belle“ genannt zu werden oder aber gleich von Betrunkenen – und getrunken wird hier viel! – in den Arm genommen wird. Lange allein bleibt hier niemand. Kontaktfreude ist das Wort der Stunde. Natürlich auf Französisch. Vielleicht klappt es noch mit ein wenig Niederländisch, aber der geneigte Dour-Besucher sollte wissen, dass er mit anderen Sprachen nicht weit kommt. Hand-und-Fuß-Kommunikation funktioniert aber auch. Ohnehin haben hier alle so viel gekifft, dass es nicht mehr vieler Worte bedarf, um sich zu mögen.

 

Donnerstag, 17. Juli

 

Für das sounds2move.de-Team startet der Donnerstag nach langer Fahrt und widrigem Zeltaufbau ruhig. Aus dem Off die FOALS im Ohr, geht es zum ersten Gig des Tages: Das Dub-Trio EZ3KIEL spielt in einem der vier Zelte des Dour, dem kleinen „Club-Circuit Marquee“. Die Franzosen instrumental-rocken im Halbdunkel. Bei ihrer unvergleichbaren Sound-Komplexität, die bei so wenigen Instrumenten immer wieder einem Wunder gleich kommt, bedarf es aber auch keinerlei grellem Lichts, damit das Publikum durchdreht. Bei GOLDFRAPP geht es derweil um einiges ruhiger zu. Das englische Electronic-Duo um Alison Goldfrapp lädt mit leisen Tönen heute mehr zum sanften Träumen als zum Tanzen. Getanzt werden darf später am Abend noch genug. MODESELEKTOR macht auf der „Eastpak CORE Stage“ den Anfang. Es ist voll und trotz eisiger Außentemperaturen ziemlich heiß. MODESELEKTOR und VJ Pfadfinderei wissen die Meute für eine gute Stunde bestens mit Tanzmusik zu beschäftigen. Man sollte meinen, dass die folgende ELLEN ALLIEN darauf ein Leichtes hat, die Stimmung zu halten. Falsch gedacht. Ellen, die normalerweise keine Probleme hat die In-Clubs Berghain (Berlin) oder Robert Johnson (Offenbach) sofort zum Beben zu bringen, läuft das Publikum davon. ELLEN ALLIENs Minimal-Sound stößt auf taube Ohren, getanzt wird kaum noch. Erst nach einer Stunde, kurz vor Ende, tauen die an Jumpstyle-Techno gewöhnten belgischen Ohren und Gliedmaßen ein wenig auf. Schade für Ellen, die ein wirklich tolles Set hinlegt. Der Eindruck, dass Minimal hier noch nicht der ganz heiße Scheiß wie in Deutschland ist, wird sich am nächsten Tag allerdings nicht bestätigen lassen. Im Zelt gegenüber steht mit ALTER EGO am Mischpult bereits wieder Electronica made in Germany auf dem Plan. Der wummernde Bass des Essener Duos weiß dann auch schon mehr Menschen zu begeistern. Nach ihrem Überhit „Rocker“ sagt mein ganz persönliches Alter Ego allerdings Gute Nacht für heute und wankt auf Tanzfüßchen Richtung Zelt. Die nächsten Tage werden hart und ein wenig Schlaf kann nicht schaden.

 

 

 

Freitag, 18. Juli

 

Freitags geht es härter zu Sache. Die New York Hardcore Punk Band AGNOSTIC FRONT knüppelt sich durch harte Drumpassagen und Gitarrenbretter. Obendrein kommen die wildpogenden Fans in den Genuss eines Duetts mit dem Sänger der befreundeten Band Do Or Die, die früher am Tag spielte. Ebenfalls Freunde von AGNOSTIC FRONT: LIFE OF AGONY, die mit Mosh-Garanten wie „Weeds“ und „Love To Let You Down“ ordentlich nachlegen. Metal mit Hardcore- und Thrash-Elementen und unzähligen „Fucks“ in jeder Ansage täuschen nicht darüber hinweg, dass auf der Bühne ein sichtlich glücklich-gerührter Keith Caputo steht. Flink wie ein Wiesel rennt der Metal-Beau über die Bühne und beobachtet dabei haarscharf die Reaktionen des Publikums. Vor allem die erste Reihe erweist sich als sehr textsicher. Ob Caputo oder das Publikum am Ende des Tages dankbarer nach Hause geht, bleibt eine offene Frage.

 

Agnostic Front Ratatat
   
Life of Agony

Weniger hart, aber ebenso aus New York, haben RATATAT den Weg in die Dance Hall gefunden. Das Electronic-Duo um Gitarrist Mike Stroud und Synthesizer-Knöpfchen-Dreher Evan Mast kommt live weniger elektronisch daher als aus der Konserve. Bei diesem Indie-Set kommt das Gefühl auf, einer Probe beizuwohnen. Andere Gefühle kommen dabei kaum auf. RATATAT scheinen etwas neben sich zu stehen. Das Publikum wird von ihnen kaum wahrgenommen, stattdessen versteckt sich die Band lieber hinter den eigenen, langen Haaren. Kalkuliert und ohne viel Tamtam wird hier ein Gig durchgezogen. Nicht mehr, nicht weniger.

Das Herzblut, das man hier vermisst hat, bekommt man bei THE NOTWIST doppelt und dreifach zurück. Letztes Jahr noch im Zelt, dieses Jahr schon auf der kleinen Open Air Bühne. Kraftvoll wie auch virtuos präsentieren die Weilheimer ein Set, das von den beiden Veröffentlichungen „Neon Golden“ und „The Devil, You + Me“ geprägt ist. Feinste elektronische Klänge und Markus Achers sanfte Stimme laden zum Träumen ein, wildes Indie-Gefrickel lässt tanzen. Besonders gut kommen „Pick Up The Phone“, das schon recht früh zu Beginn verschossen wird, und „Neon Golden“ an. Frenetisch beklatscht wird auch der Einsatz von Wii-Joysticks, die Martin Gretschmann zur Klangerzeugung zweckentfremdet. Wo hat man so etwas schon mal gesehen. Toll.

The Notwist

Elektronisch geht es zu später Stunde weiter. RICHIE HAWTIN, Boss des M_nus Labels, eröffnet pünktlich um 24 Uhr die Party anlässlich des 10. Geburtstags eben jener Talentschmiede. Auf HAWTIN folgen HEARTTROB und MAGDA. Die drei Minimalisten lassen vollkommen vergessen, dass es draußen mittlerweile in Strömen regnet. Im Zelt herrscht beste Club-Atmosphäre und das über gute fünf Stunden. Aber über Techno zu schreiben ist wie zu Architektur zu tanzen. Es sei gesagt: Es wurde geschrieen, ausgelassen getanzt und viel geschwitzt. Erst die Morgendämmerung lässt das prall gefüllte Zelt aus dem Komos M_nus zurück in die Realität des nassen Festivalgeländes treten.

 

Samstag, 19. Juli

 

Halbzeit. Ein schlecht-rasierter Chris Corner tänzelt lasziv zu „The Alternative“ über die Bühne. IAMX am helllichten Tage zu sehen, ist in etwa so komisch wie ohne Kaffee in den Tag zu starten. Aber trotz seltsamer Uhrzeit legen die vier Briten ein grundsolides Set ab. Alle Hits dabei, die Fans singen fleißig mit. Was will man also mehr? Eine Zugabe vielleicht. Und die bekommt man bei IAMX immer. „Kiss + Swallow“ beendet das reguläre Geschehen auf der Bühne. Es bleiben jedoch zehn Minuten und wer IAMX kennt, weiß, was da noch kommt. Die Herren wollten zur Zugabe gebeten werden. Unter fünf Minuten „Encore“-Rufen geht nichts. Auch wenn klar ist, dass sie zu den fehlenden Songs „President“ und „After Every Party I Die“ nochmals auf die Bühne kommen werden.

  IAMX


Während IAMX sich weiter feiern lassen, brüllen HEAVEN SHALL BURN um ihr Leben und LAGWAGON verspielen sich direkt beim ersten Song. „Goodbye“ heißt es da schon, „wir fahren jetzt wieder nach Hause, es war schön auf dem Dour“. Nein, nur Spaß. Die Fun-Punker wollen belustigen, scheitern damit jedoch kläglich. Vor der Bühne tummeln sich ein paar Alt-Punks und einige Alkoholleichen, die dort wohl von ihren Freunden vergessen wurden. LAGWAGON spielen sich trotzdem dem Sonnenuntergang entgegen.

 

  Lagwagon

 

Passend zum Sonnenuntergang lassen die Instrumentaleskapaden WOVEN HANDs den größten Teil des Publikums dann auch schon verträumt auf den viel zu kalten Boden sinken. Augen schließen und David Eugene Edwards‘ dunkler Grabesstimme lauschen und genießen, das ist die Devise des Abends. Mit Guns’n’Roses-Gedächtnis-Stirnband widmet sich Edwards Banjo und christlich-konnotierten Texten. So gut wie WOVEN HAND mit „Winter Shaker“ begonnen hat, so verliert sich der 16-Horsepower-Kopf auf Dauer leider auch in ziemlich belanglosem Alt-Country-Einheitsbrei. Schade.

  Woven Hand      

 

Sonntag, 20. Juli

 

Der Sonntag startet passend zum grauen Himmel mit melancholischem Electro-Post-Rock. EFTERKLANG spielen im kleinen Zelt „La Petite Maison dans la Prairie“ auf. Entweder ist es noch zu früh am Tag oder die Qualität der Dänen hat sich noch nicht herum gesprochen. Vor der Bühne bleibt es leer. Für Festivaltag 4 ist der komplexe Sound EFTERKLNAGs aber vielleicht auch einfach ein bisschen viel verlangt.

Die einheitlich in lila Samt gekleideten Schweden von THE (INTERNATIONAL) NOISE CONSPIRACY haben rein musikalisch einen einfacheren Start. Mit 60ies-Garage-Punk-Rock ist ein Publikum eben immer schneller zu kriegen. Der Platz vor der Last Arena ist gut gefüllt, allerdings wird hier allenfalls Sitz-Pogo getanzt. Alle sind einfach viel zu erschöpft, um auch nur noch den kleinen Finger zu bewegen. Das hindert Rampensau Dennis Lyxsen aber nicht daran zu „Up For Sale“ oder „Black Mask“ trotzdem die Bühne zu zerlegen und sich wie gewohnt ins Publikum zu werfen.

The (International) Noise Conspiracy

 

Die Band WHY? um Kopf Jonathan „Yoni“ Wolf erkennt derweil im „Club-Circuit Marquee“-Zelt, dass sie es wohl noch nicht bis Europa geschafft haben. Das Trio aus Berkeley/Kalifornien macht es sich mit abstraktem Hip Hop gepaart mit Indie Rock und abstrusen Texten aber auch nicht leicht. Live sind WHY? durchaus eine Bank. Die können was. Wenn sie denn von ellenlangen Pausen und Privatgesprächen zwischen zwei Songs absehen würde. Damit, dass der Schlagzeuger nach kurzem cholerischen Anfall für Minuten von der Stage verschwindet, gewinnt man keine Preise.

Why?

 

Auch die schwedischen SHOUT OUT LOUDS ziehen kaum mehr Menschen vor eben diese Zeltbühne. Zu erst fragt man sich, wie das sein kann, werden sie in den USA doch in einem Atemzug mit Bands wie Arcade Fire oder Bright Eyes genannt. Die Erklärung folgt jedoch wie stets auf dem Fuße: Die Indie-Rocker spielen erst zum zweiten Mal überhaupt in Belgien. Bei den wenigen hier Gelandeten geht die markante Mischung aus elektrisch-angehauchtem New Wave und ultra-tanzbarem Indie-Pop gepaart mit Adam Olenius‘ wundervoll-liebeskummerwunder Stimme sofort in Kopf, Herz und Füße. Im Gegensatz zu WHY? ist man sich sicher: Die SHOUT OUT LOUDS werden auch noch dieses kleine Land im Sturm nehmen. So viel ist klar.

  Shout Out Louds

Auf der Last Arena feiern die HOLLYWOOD PORN STARS ein Heimspiel und gleichzeitig die Premiere zum ersten Mal die größte Bühne des Dours bespielen zu dürfen. Zur Feier des Tages verschießen die Indie-Popper ihren Überhit „Money“ dann auch bereits als zweites Stück. Mittlerweile sind die Besucher auch wieder wach geworden und tanzen ausgelassen. Auch in froher Erwartung von THE RAVEONETTES, die kurze Zeit später an gleicher Stelle stehen. Das dänische Garagenrock-Duo besticht vor allem durch Sängerin und Bassistin Sharin Foos Schönheit. Die Frau haut jeden gestandenen Mann um. Zusammen mit Songschreiber Sune Rose Wagner wildert sie in den Beat- und Psychedelic-Gefilden der Sechziger. Live kommt ihr Sound allerdings etwas dünn und über weite Strecken einfach langweilig rüber.

Hollywood Porn Stars
 
The Raveonettes

GOGOL BORDELLO dagegen räumen vor der großen Mainstage kurz vor Schluss noch ein Mal richtig auf. Die letzten Kraftreserven werden aufgebraucht, um dicht aneinander gedrängt der explosiven Show zu folgen. Allein um Eugène Hütz nicht aus den Augen zu verlieren, bedarf es einiger Anstrengung. Gogols Frontmann prescht wie ein Derwisch über die Bühne. Geiger, Gitarristen und Akkordeonspieler stehen ihm in nichts nach. Das Publikum pogt und schreit ekstatisch. Die Stagediver fliegen im Sekundentakt durch die eisige Luft. Man weiß nicht, wer hier mehr gibt: Die Gypsy-Balkan-Punker oder ihre wilden Fans. Ein Abschluss, wie er grandioser nicht sein könnte. Wenn danach doch bloß nicht nochmals die böse Kälte im Zelt, das man für vier Tage sein zu Hause nannte, käme.

 

Gogol Bordello  

 

Summasummarum hatte die 20. Auflage des Dour Festivals nicht viele musikalische Highlights zu bieten. Im Grunde hatten wir es hier mit einem Best-of-Dour zu tun. 20 Jahre Festivalgeschichte auf vier Tage verteilt. Nicht schlecht, aber auch nicht umwerfend, wie so ein Greatest Hits nun mal ist. Nichtsdestotrotz ist und bleibt das Dour Festival einen Besuch wert. Denn: Wo sonst trifft man so viele verschiedene Nationen auf einem Fleck? Wo sonst treffen Electronica, Hip Hop, Reggae und Indie so dicht aufeinander? Wo sonst kann man Bands, die in Deutschland bereits riesige Hallen ausverkaufen, auf kleinen Bühnen nochmals hautnah erleben? Wo sonst kann man vier Tage mitten in einem kleinen Städtchen so ausgelassen feiern? Wo sonst, wenn nicht auf dem Dour Festival?

 

Text und Fotos: Katrin Reichwein - www.sounds2move.de

 

Link: www.dourfestival.be