Festivalbericht zum Les Eurockéennes de Belfort 2007

Beginnen wir geografisch-metreologisch: Der Wetterbericht lügt. Die Voraussage lautet "bewölkt, Regenschauer, 14°C". Als wir durch blumenbeschmückte Dörfer mit kleinen Flüsschen und romantisch-heruntergekommenen Kirchen, vorbei an den Vogesen mit einem seiner hohen Berge, dem Ballon d'Alsace, fahren, sticht die Sonne schon gewaltig. Wie in jedem Jahr präsentiert sich das malerische Städtchen Belfort und die gesamte Region Franche-Comté (ja, dort, wo der gute Käse herkommt) in seinem besten Licht. Das Les Eurockéennes ist ein Festival, auf das man immer wieder zurückkehrt, so sind wir natürlich bestens auf hohe Temperaturen vorbereitet. Ist ja doch jedes Jahr das Gleiche hier. Das Wetter bringt sogar Luftmatratzen zum Platzen. Nachdem wir es uns auf dem für deutsche Verhältnisse engen Campingplatz wohnlich gemacht haben, geht es mit dem Shuttlebus zum eigentlichen Festivalgelände auf der von zwei Seen umgebenen Halbinsel Malsaucy.

Freitag, 29. Juni

Die erste Band des noch jungen Abends, die wir uns ansehen, sind GOGOL BORDELLO. Die Franzosen, die wir die Jahre zuvor als eher ruhige Menschen, die das Livegeschehen stoisch beobachten, kennengelernt haben, ticken bei ukrainischem Gypsy-Punk aus. Die vorderen Reihen tanzen Walzer, hüpfen apathisch zu Trommelklängen oder werfen sich mit vollem Körper gleich ganz in den Matsch. Der vorhergehende tagelange Regen hat sein übrigens getan, um die einst so schönen Wiesen des Geländes in eine braune, stinkende Masse zu verwandeln, die auch nach drei Tagen Festivalsonne nicht so recht trocknen will.

Im großen, halboffenen Zelt, dem Chapiteau, wälzt sich derweil JULIETTE mit ihren LICKS lasziv auf der Bühne. Ganz Hollywood-Diva wirft sie sich auch als Sängerin in Kostüme. Heute schmückt sie rosaner Lidschatten, der nicht mehr emo sein könnte und die obligatorische Feder im Haar hat sie auch nicht vergessen. Solider Rock, der einen Hier und Da zum Schmunzeln bringt. Wie könnte man anders, wenn sie sich zu Donna Summers "Hot Stuff" räkelt. Ab und an fragt man sich, ob Juliette die gehauchten "Mercis" ernst meint oder ob ihr Schauspielunterricht einfach so gut war. Ihre anschließende Pressekonferenz zeigt, sie meinte es ernst. "The show was lotta fun", sagt sie, trällert "Hey Joe" für die Journalisten und bekommt vielleicht noch mehr Applaus dafür als zuvor auf der großen Bühne.

Kontrastprogramm auf der Grande Scène: Der WU-TANG CLAN ist aus der Versenkung aufgetaucht. Wäre er mal lieber dort geblieben! Mehr als derbes "YoYoYo"-Gepose kommt bei den selbst ernannten "Black Beatles" nicht rum. Weg hier! AMY WINEHOUSE kann mit ihrer Big Band auch nicht mehr reißen. Auch wenn die Jazz/Soul Sängerin noch so viele Mercury Music, Ivor Novello und Brit Awards gewonnen hat, ist sie live nur eines (und das mag jetzt gerne unqualifiziert klingen): langweilig. Die französische Popgruppe LES RITA MITSOUKO, die der Tage ihr Comeback feiern, gehen leider genau so an uns vorüber. Uns zieht es zu elektronischeren Klängen. SIMIAN MOBILE DISCO bespielen das kleine Zelt, die Loggia. Das aus der Asche von Simian entstandene Dance Production und Remix Duo zaubert mit seinen wummernden Bässen eine derartige Rave-Stimmung herbei, dass man kurzerhand vergisst auf einem Open Air zu sein, geschweige denn auf einem Rockfestival. "Tits & Acid" eben. Auf der Love Parade geht es auch nicht anders zu. Körper bewegen sich im 180bpm-Takt. Das Stroboskop flackert. Nach nicht einmal einer Stunde ist die große DJ-Kunst leider schon wieder vorbei.

Auf den Boden der Tatsachen zurückgekehrt, gehen wir weiter zur Plage. Die schönste Bühne, die ich je in meinem Leben sehen durfte. Direkt am Strand des Lac du Malsaucy warten dutzende Discokugeln darauf vom Sonnenuntergang angestrahlt zu werden. Traumhaft. Hier spielen gerade JUNIOR SENIOR, deren Hit "Move Your Feet" dem ein oder anderen von vergangenen Sommerurlauben noch im Ohr hängen dürfte. Live präsentiert sich das jütländische Duo mit großer Band im Schlepptau. Glitzerfummel treffen auf Neonleggings. 80ies galore. Auch musikalisch geht es in das fröhlich-bunte Popjahrzehnt. Unwillkürlich denkt man an die Kinder des Pärchen Beach Boys-Abba, die allesamt zusammen in einem Musical namens "Disco" auftreten. Für einige Minuten ist das eine lustige Sache, auf Dauer aber viel zu aufgesetzt-catchy.

GRIOTS & GODS, ein eigens für das Eurockéennes und Dour Festival (Belgien) ins Leben gerufene Projekt der Schweizer Industrialband The Young Gods und des US-Hip Hop Duos Dälek, weiß da schon mehr zu beeindrucken. Atmosphärisch und düster klingen die neuinterpretierten, fettinstrumentierten Songs beider Bands. Franz Treichlers Gesang sorgt für Gänsehaut und selbsternannte Rap-Hasser müssen nicht die Flucht ergreifen, wenn Dälek hinter seinem Laptop auftaucht, um zu singen. Der dichte Sound tut sein Übrigens, um mit offenem Mund vor solch einem Experiment zu stehen.

Am späten Abend wird es auffällig voller. MARILYN MANSON-Fans stellen mindestens 50% des Besucheranteils. Man hat Mühe sich durch die Menschenmasse von Bühne zu Bühne zu schieben. So weitläufig das Gelände auch sein mag, heute wollen sich die Besucher einfach partout nicht verteilen. Warum so viele Menschen gerade wegen Manson angereist sind, fragt man sich ernstlich als selbiger um zwei Uhr nachts sein Konzert beendet. Eine Woche zuvor, auf dem Southside Festival, machte ich noch den Wind und den allgemein schlechten deutschen Festivalsound dafür verantwortlich, dass selbst meine Stereoanlage lauter als Manson live ist. Doch liegt es weder an Deutschland, noch am Wind. – Marilyn Manson ist auch in Frankreich, direkt neben einem Boxenturm, so leise, dass man sich noch in angenehmer Lautstärke unterhalten kann. Private Unterhaltungen sind ohnehin interessanter als das, was Manson hier leistet. Mochte er vor einigen Jahren noch mit Make Up und Attitüden schockieren, wirkt dies heute allenfalls lächerlich. Bei den vielen neuen Songs schlafen den Meisten im Publikum im Stehen die Füße ein. Nur einige Hardcorefans sieht man immer wieder beim Versuch des Crowdsurfens. Bedenklich auch, dass lediglich bei den Coverversionen "Sweet Dreams" und "Tainted Love" überhaupt einmal mitgesungen wird. Passend zum "Fight Song" passiert dann endlich etwas Spektakuläres – wurde auch Zeit, denn wer will zum hundertsten Mal sehen wie Manson seinem Gitarristen Tim Skold sein Mikrofon mitsamt einer Messerklinge als Schaft an den Hals hält? Eine Prügelei zwischen Securities und einem Betrunkenen bringt die Abwechslung. Keine gute Konzertszene, die für eine Seite gar im Krankenhaus endet, aber um Längen fesselnder und sogar schockierender als der so genannte Schockrocker auf der Bühne. Da kann auch die fette Konfettikanonensalve bei der Zugabe "Beautiful People" nicht mehr viel wett machen.

Schnell wieder zurück ins Chapiteau. Das derzeit (zu Recht) viel gehypte Pariser DJ-Duo JUSTICE wird vom Publikum mit einem gigantischen Holzkreuz sowie zu Kreuzen geformten Fingern euphorisch begrüßt. Am DJ-Pult prangt eben selbes Kreuz, das sich auch dem soeben erschienen Album "†" befindet. Frei nach dem Titel "D.A.N.C.E" herrscht hier die wahre Party. "Do the D.A.N.C.E. / 1 2 3 4 Fight / Stick to the B.E.A.T.". Famos zu sehen, wie es zwei Männer in schwarzen Hemden besser verstehen die Crowd zu rocken als fünf Düsterrocker, die schon viel länger im Geschäft sind. Die Crowdsurfer fliegen im Sekundentakt so schnell durch die Luft, dass einem ganz schwindelig beim Anblick wird. Im Zelt ist es brechend voll, hätte es Wände, der Schweiß würde an ihnen herunter laufen. Es wird getanzt und geschrien und dennoch aufeinander aufgepasst. So kriechen auf einmal zwanzig Leute neben mir auf dem Boden herum, um ein verlorengegangenes Brillenglas zu suchen. Glas gefunden, "The Party" can go on. Und das zu Justices eigenen Tracks sowie Hits von M People über Klaxons bis zu The Prodigys "Smack My Bitch Up" in Form einer Menge Mash-Ups. Wer hätte gedacht, dass es sich zum Theme des Weißen Hais so gut tanzen lässt? Zum Abschluss wird noch einmal so richtig schön laut der Refrain "We Are Your Friends" des Simian-Überhits "Never Be Alone" mitgesungen. Erfrischend tolles DJ-Set. Besser hätte man den ersten Festivaltag nicht beschließen können.

Verschwitzt, aber glücklich begeben wir uns Richtung Shuttlebus, der an diesem Abend jedoch nicht wie gewohnt alle fünf Minuten fährt. Irgendwo hat hier heute die Organisation gepennt. Nach einer geschlagenen Stunde Schlangestehens kommen wir doch noch am Zelt an und fallen in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Samstag, 30. Juni

Gott sei Dank ist das erste Konzert erst am Nachmittag. Die Nacht war kurz. Ausschlafen kann man nicht. Es ist zu heiß im Zelt. Nachdem wir uns an Dosenravioli gütlich getan haben und dank Solardusche auch wieder annähernd menschlich riechen, – an Waschgelegenheiten wurde in diesem Jahr etwas gespart – sind wir bereit wieder zum Strand zu gehen. Die Scanners aus London sind fast mit ihrem Set durch, also gehen wir weiter zu den EDITORS auf die Grande Scène. Sind sie jetzt nur ein weiterer Abklatsch von Interpol und damit auch von Joy Division? Ein klares Nein. Tom Smith erweist sich trotz Katers wieder einmal mehr als eine derartige Rampensau, da kann Paul Banks nur vor Neid erblassen und Ian Curtis dreht sich im Grabe um (Blasphemie!). "Chris Martin auf Speed", schießt es einem durch den Kopf als sich Hit an Hit reihen. "Munich", "Smokers Outside The Hospital Doors" und "Fingers In The Factories" – alles direkt hintereinander weg gespielt. Keine Zeit zum Durchatmen. Das hier schreit nach mitsingen, mitwippen und sich rundum gut fühlen.

Als nächstes steht die schwere Entscheidung Phoenix oder Maxïmo Park an. MAXIMO PARK entscheiden das Rennen für sich. Nicht dass Phoenix schlecht wären, nein, sie sind eine ausgezeichnete Liveband, aber wie oft hat man die Chance Maxïmo Park auf einer kleinen Bühne am Strand zu sehen und das mit weniger Publikum als auf einem heimischen Club-Gig von ihnen. Der Maxïmo Park-Hype ist noch nicht ganz bis Frankreich durchgedrungen. Paul Smith tut sein Bestes, um dies baldmöglichst zu ändern und wenn es nur mit platten, dennoch sehr charmanten Anspielungen ist: "I'll do Graffiti if you sing to me in French" (aus "Graffiti"). "Parisian Skies" tut sein Übriges, um die Menge zum Ausrasten zu bringen. Auf der Bühne selbst hat die Band auch sichtlichen Spaß an der Sache. Paul rennt von rechts nach links, um auch wirklich jedes Gesicht hinter dem Wellenbrecher zu sehen, seine Spagate in der Luft neidet ihm so manch Ballettänzer. Ab und an leidet seine Stimme unter all dem körperlichen Einsatz. Erschöpft dankt er dem französischen Publikum. Er schaue sich nun selbst noch Deerhoof und Queens Of The Stone Age an.

Zu DEERHOOF zieht es auch uns. Der Mix aus Noise, zuckersüßen Melodien und allgemeinem Experimentiergeist zwischen herausforderndem Krach und äußerst unterschiedlichen Stilen, überfordert heute heillos. Außerdem haben wir Hunger. Wie in jedem Jahr habe ich verdrängt, dass die Franzosen außerordentliche Freunde des Fleischgenusses sind. "Jambon, Jambon, Jambon", schreien mich die Schilder der diversen Essenstände an. Poulet und Bovin nicht zu vergessen. Ich möchte doch nur ein Käsebaguette! Aber nichts da. Es endet wie immer mit einem Crêpe.

Gesättigt, aber unzufrieden, lasse ich mich überreden QUEENS OF THE STONE AGE anzusehen. Josh Homme, der sich auf der Pressekonferenz als ursympathischer Typ, der auch den ein oder anderen Zaubertrick beherrscht, präsentiert hat, legt mit "Burn The Witch" los. Schnell ist meine gute Laune wieder hergestellt. Insgesamt betrachtet spielen QOTSA das beste Konzert, das ich bisher von ihnen sehen durfte, und das waren nicht eben wenige. Dennoch bin ich im Nachhinein immer noch etwas enttäuscht, dass sie nicht "Feel Good Hit Of The Summer" gespielt haben, da trösten auch "Go With The Flow" und "No One Knows" nicht hinüber weg.

THE HIVES proklamieren zwei Stunden später "the best Hives show of the summer". Das habe ich so dieses Jahr doch schon einmal gehört, nämlich bei Rock am Ring. Nun gut, die Hives dürfen das. Denn jedes Hives-Konzert ist das beste Hives-Konzert. Der etwas heisere Pelle Almqvist schmeißt sich immer wieder ins Publikum, so ist er bei "Walk Idiot Walk", "Hate To Say I Told You So" und auch bei "Die, All Right" für Minuten verschwunden. Ein Alptraum für jede Security. Wenn er nicht gerade dabei ist, sich von den Damen die Kleider vom Körper reißen zu lassen, verschlägt es ihn in schwindelerregende Höhen. Der Mann ist alles andere akrophobisch. Immer weiter treibt es ihn die Bühne hinauf. Zwischendurch bleibt auch Zeit einen brandneuen Song zu präsentieren; "Tic Tic Boom" poltert in gewohnter Hives-Garagen-Rock-Manier nach vorne. Zum finalen Song "Two-Timing Touch And Broken Bones" taucht Pelle ein letztes Mal in die Tiefen des Publikum. Die Menge gröhlt. The Hives Are Law, You Are Crime! Als einzige Band dürfen sie eine wirkliche, nicht vorher geplante, Zugabe spielen: "Supply And Demand" und "Antidote" mit seinem mitreißenden Refrain beendeten das mehr als gelungene Set. Nur noch eins ist zu dieser schweißtreibenden Show zu sagen: Gebt Pelle ein Mikro ohne Kabel! Der arme Kerl erwürgt sich sonst noch.

Die Hamburger DIGITALISM haben längst mit ihrem Live-Set im Chapiteau begonnen als den Hives der Saft abgedreht wird. Das DJ-Duo hat seine Heimat auf dem französischen Label Kitsuné, das dieser Tage neben Ed Banger Rec. das Electro-Label schlechthin ist, gefunden. Spielerisch-verwirrte Sounds flimmern durch die Luft, der Schweiß rinnt, variantenreiche Beats lassen Füße tanzen. Über allem prangt der neongrüne Digitalism-Schriftzug. Jens Moelle und Ismail Tuefekci feuern einen Clubkracher nach dem anderen auf die tobende Menge los. Das poppige "Pogo" stellt unter Beweis, dass die Herren nicht nur hinter dem Laptop/Synthie etwas können; Ismails E-Schlagzeug und Jens' Gesang stellen eine weitere Komponente dieses elektronischen Klangwunders dar. Großes Kino, von dem man möglichst schnell mehr will. Und wieder einmal ist das Spektakel viel zu schnell vorbei. Ich will weiter tanzen.

Zu meinem Glück ist nachts auf dem Campingplatz noch lange nicht an Schlaf zu denken. Schon von Weitem hören wir Brüllen und tiefe Bässe. Der Batteriehersteller Duracell hat direkt neben der Braun-cruZer-Halfpipe, auf der mittags die BMXler ihr Können zeigen, ein kleines Zelt aufgebaut, in dem nach den letzten Konzerten noch DJs auflegen. Samstag Nacht bringt DJ und Producer Anu von FREEFORM FIVE das Zelt mit wummernden Techno-Beats zum Kochen. Als um 5 Uhr morgens Schluss ist, schon eine Stunde über angesetzter Spielzeit, brüllen einige Hartgesottene immer noch nach mehr. Anu würde sichtlich gerne weiter machen, wo hat man schon solch ein enthusiastisches Publikum? Schlussendlich muss aber jeder einmal schlafen und ohne Bumm-Bumm-Bumm im Hintergrund geht das entspannter, so verscheucht der Zeltchef die quengelnde Menge in Ermangelung von Securities kurzerhand mit einem Besen.

Sonntag, 1. Juli

Der Abend hat mit Electronica geendet, so soll auch der nächste Tag wieder in dieser Richtung beginnen. Da bis zum späten Nachmittag keine mir bekannte Band spielt, vertraue ich voll und ganz auf den Timetable, der auch die Musikrichtungen angibt. Electrorock im Chapiteau. Das hört sich doch gut an, also los zu BIKINI MACHINE. Der vermeidliche Electrorock der fünf Franzosen entpuppt sich als alles andere als elektronisch. Viel mehr habe ich das Gefühl bei einer Coverband auf einer Zeltkirmes gelandet zu sein. Dann doch lieber in die pralle Mittagshitze zu LONEY, DEAR. Loney, Dear ist Emil Svanängen, der live mit einer großen Band unterwegs ist. Der Singer-Songwriter versteht es mit kleinen Gesten große Gefühle zu beschreiben. Entspannt sitze ich auf weichem Sand und lasse das Geschehen auf mich wirken. Leider ist es so verdammt heiß, dass man es nicht länger als zehn Minuten aushält. Ich wünsche mir einen Regenschauer, um weiter Emils zerbrechlicher Stimme zu lauschen. Petrus ist wohl mit anderen Dingen beschäftigt.

So kommt es, dass ich mich im Schatten der Grande Scène wieder finde. Viele Menschen in schwarz stehen dort. Ein Sänger reckt die Faust gen Himmel, schreit "Hate", das Publikum antwortet mit "Breed". Bei HATEBREED bin ich gelandet. Dem absoluten Kontrastprogramm zu den chilligen Loney, Dear. Hardcore Galore. Sänger Jamey Jasta bittet die Männer darum, ihre Frauen auf die Schultern zu nehmen, um so Respekt vor ihnen zu zeigen. Gesagt getan. Einige gestandene Kerle dürften den Montag mit ABC-Pflastern verbracht haben. Respekt hin, Respekt her: Circle Pits und Crowdsurfer dürfen hier auch nicht fehlen und ich werde nicht enttäuscht. Da gibt es ordentlich auf die Fresse und ich beginne mich zu fragen, warum Jamey nicht selbst heiser von seinem Geschrei wird. Ich für meinen Teil bekomme Kopfschmerzen und einen Hörsturz obendrein.

Derweil haben auch schon TV ON THE RADIO angefangen zu spielen. Experimenteller Avantgarde Indie Rock und besonders der Indie-Disco-Hit "Wolf Like Me" füllen das Zelt zwar nicht bis zum Anschlag, die paar Anwesenden sind von der Jazz-A Cappella-Psychedelia-Trip-Hop-Mischung der New Yorker doch sichtlich angetan. THE GOOD, THE BAD & THE QUEEN werden noch besser aufgenommen. Allerdings muss man sich ernstlich fragen, ob Damon Albarns Drittprojekt nicht doch ein bisschen zu hoch eingeschätzt wird. Der Ex-Blur Frontmann zeigte sich schon bei seiner Pressekonferenz als sichtlich gelangweilt und desinteressiert. Hier, auf der Bühne, schläft er fast selbst am Klavier ein. Damit mir nicht das Gleiche passiert, entschwinde ich in Richtung Loggia.

Der französische Technoguru schlechthin, LAURANT GARNIER, hat hier heute seinen APPLE-Laptop aufgebaut. Zur Überraschung vieler stehen direkt daneben ein Keyboarder, ein Posaunist, sowie ein Saxophonist. Während der ersten zwei Tracks unterstützen sie den elektronischen Ambientsound live. Ein Experiment, das fehlschlägt. Herr Garnier versteht es sein Publikum zu teasen. Das ist wie bei der Art von Sex, bei dem der Orgasmus so lange hinausgezögert wird, um sich dann doch noch mit voller Wucht zu entladen. Ein Problem gibt es aber an der Sache: Laurant versäumt es die stumpfen Bassbeats einen Tick länger zu halten. Guter Sex geht anders. Tanzstimmung will während dem Bläsereinsatz keine aufkommen. Gebrülle und wildes Gepfeife sind alles, was er seinen Jüngern entlocken kann. - "Bass, Bass, wir brauchen Bass"! - Ab dem dritten Song bekommt Laurant dann aber doch noch die Kurve. Es darf getanzt werden. Endlich.

Die selbsternannten "4 Horsemen of 2012" KLAXONS legen gleich mit dem Synthie-Sirenen-dominierten "The Bouncer" los, um klar zu machen: "Not tonight, you're not on the list, your name's not down, you're not coming in!". Ein Glück, dass ich auf der Liste stehe und allen anderen scheint es egal zu sein, was die Überflieger aus Londoner New Rave Szene zu sagen haben. Der Überhit "Atlantis to Interzone" wird direkt nachgeschoben. 90er-Eurotrash-Beats bringen das Zelt zum Beben. Hit folgt auf Hit. Schlimm aber auch, dass diese Band nicht einen schlechten Song auf Lager hat.

Direkt im Anschluss zeigen AIR, dass sie erstaunlicherweise live viel mehr rocken als auf dem heimischen Plattenspieler. Nicolas Godins und Jean-Benoit Dunckels atmosphärische 70er-Synthesizer-Sounds verschmelzen mit wunderschönen Lichteffekten. Wäre das Zelt nicht so voll, es würde zum Träumen einladen. Dank immensen Gequetsches ist die Stimmung dahin und ich weg. Dann doch lieber zu Musik zerdrückt werden, zu der es auch passt: Die Dance/Electrorock-Band GOOSE liefert ein Duell zwischen Kraftwerk und Daft Punk. Das Konzept Goose ist nicht wirklich neu. Electro live mit Instrumenten sieht man wieder öfter auf europäischen Bühnen, so ja auch schon auf diesem Festival. Doch die Spielfreude, die die vier Belgier an den Tag legen sucht ihresgleichen. Dave Martijn (Ex-Soulwax!) wechselt stetig zwischen Gitarre und Keyboards während Mickael Karkousse stampfende Beats aus den knarzigen Synthies zaubert. Seine verzerrte Stimme, deeper Electro und ein kräftiger Bass - mehr braucht es nicht, um eine rockende Dance-Nummer zu kreieren. Die Zuschauer sind glücklich. Ich bin es auch.

Raus aus dem Zelt, verschwitzt in den Regen. Ich hatte Petrus doch mittags um einen Schauer gebeten. Doch nicht jetzt! Als letzte Band des Festivals, und erst genannte auf den Festival-T-Shirts, stehen ARCADE FIRE auf der Grande Scène. Der Regen prasselt fröhlich vor sich hin während tausend Kehlen "Rebellion (Lies)" mitsingen. Der halbwegs getrocknete Boden verwandelt sich wieder in ein Matschfeld. Arcade Fires orchestraler Rock bietet einen schönen Ausklang für ein wieder rundum gelungenes Festival, das in diesem Jahr zwar auch einmal die ein oder andere Macke gezeigt hat, aber es kann über drei Jahre, die ich es nun schon besucht, nicht immer alles perfekt laufen. Wir sehen gnädig drüber hinweg, steigen ein letztes Mal in den Shuttlebus und freuen uns, dass es die Nacht über trocken bleibt. Ein Zelt will schließlich nicht nass verpackt werden.

Als Montag Morgen über dem Ballon d'Alsace doch wieder apokalyptische Gewitterwolken aufziehen, es windig wird, beschließen wir schnell unsere Siebensachen in den Bollerwagen zu packen und zu verschwinden. Auf dass am ersten Juliwochenende 2008 wieder die Sonne scheint.


Setlist Marilyn Manson

If I Was Your Vampire
Disposable Teens
You And Me And The Devil Makes 3
Irresponsible Hate Anthem
mOBSCENE
Sweet Dreams
Putting Holes In Happiness
Just A Car Crash Away
Rock Is Dead
Heart-Shaped Glasses
Tainted Love
The Dope Show
The Fight Song
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The Beautiful People

Setlist Aracde Fire

Keep The Car Running
No Cars Go
Haiti
Black Wave / Bad Vibrations
In The Backseat
Intervention
(Antichrist Television Blues)
Ocean Of Noise
Neighborhood #1 (Tunnels)
Neighborhood #3 (Power Out)
Rebellion (Lies)
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Black Mirror
Wake Up

 

 

Setlist Klaxons

The Bouncer
Atlantis To Interzone
Hall Of Records
Totem On The Timeline
Golden Skans
As Above, So Below
Two Receivers
Magick
Gravity's Rainbow
Isle Of Her
It's Not Over Yet
Four Horsemen of 2012  

 

 

Setlist Queens Of The Stone Age

Burn The Witch
Misfit Love
Little Sister
Battery Acid
Turning On The Screw
In My Head
How To Handle A Rope
Go With The Flow
I Think I Lost My Headache
Sick Sick Sick
Monsters In The Parasol
Into The Hollow
Mexicola
3's & 7's
No One Knows
Song For The Dead

Katrin Reichwein - www.sounds2move.de