Listening Session-Report – „Norjd“ von Leaves’ Eyes (VÖ 28.08.2009)

 

Ende Mai 2009, auf den Tag genau vor 10 Jahren hat die Frankfurter Eintracht das letzte ganz große Fußballwunder am Main erlebt – dank des Publikumslieblings Jan Aage Fjörtoft. Heute steht nun die erste Feuertaufe für das dritte Leaves’ Eyes Album „Njord“ auf dem Programm, womit der Bogen zum ersten – zugegebenermaßen völlig gebietsfremden Fakt – geschlagen wird, denn mit Sängerin Liv Kristine stammt auch heute die Hauptperson aus dem schönen Norwegen.

 


Können sich entspannt zurücklehnen: Leaves' Eyes haben "Njord" quasi fertig.

Pfingststaus, unfähige Sonntagsfahrer und gesperrte Ausfahrten gilt es hinter sich zu lassen, bevor das s2m-Gefährt in einen unauffälligen, schmalen Weg einbiegt, welcher in der Nähe der Schwaben-Metropole Stuttgart ins idyllische Nichts zu führen scheint. Quer durch genau den Wald, in dem Leaves’ Eyes den Bandhistory-Part ihrer sehenswerten DVD „We came with the Northern Winds“ gedreht haben, schlängelt sich die Straße, bevor zwischen Bäumen und Feldern eine kleine Siedlung auftaucht. Hier im ruhigen, ländlichen Umland der Porsche-Stadt leben nicht nur Alex Krull, Gattin Liv Kristine und Söhnchen Leon im schlichten, familienfreundlichen Umfeld, sondern genau hier hat man auch das eigene Mastersound Studio neu lokalisiert. „Bevor wir hier unser Studio neu gebaut haben, stand an genau dieser Stelle nichts außer ein paar Hühnerställen“, lacht Gitarrist Matthias Röderer. „Hier haben wir zwar nur noch die Hälfte der Fläche, aber das reicht absolut für uns. In Fellbach hatten wir eigentlich schon zu viel Platz, da gab es viel zu viele ungenutzte Flächen“, führt Matze aus. „Außerdem sind wir hier unsere eigenen Herren und können noch unabhängiger arbeitet“, findet s2m-Kolumnist Tosso. Liv begrüßt die Presse-Vertreter unterdessen mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen und einem selbst gemachten Buffet, das sich nach anfänglicher Zurückhaltung größter Beliebtheit erfreut. Den heutigen Termin bestreiten Leaves’ Eyes übrigens in der Rumpfbesetzung als Quartett, da Basserin Alla Fedynitch sich am Fuß verletzt hat und zudem mit ihrer anderen Band Enemy of the Sun an diesem Wochenende einen Auftritt in Leipzig beim WGT hat. Verhindert ist auch der neue Drummer der Band: „Seven sitzt gerade in Los Angeles auf gepackten Koffern. Er zieht nach Europa, allerdings nicht zu uns nach Deutschland, sondern mit seiner Frau nach Schweden. Das ist zwar auch noch ein Stück weg, macht es für uns aber dennoch einfacher“, erläutet Shouter und Regler-Guru Alex Krull gewohnt sympathisch. Selbiger ist leider etwas hinter dem eigenen Zeitplan, weshalb das neue Album heute noch nicht in voller Länge vorstellt werden kann und sich auch die erste Premiere des fertigen Liedguts noch etwas nach hinten verschiebt, da der unverbesserliche Perfektionist die meiste Zeit im Regieraum nebenan verbringt und noch über letzten Details brütet. Da sich auch eine Kollegin verspätet nutzen alle die Zeit, um wahlweise die bereits erwähnte DVD der Band anzusehen (bei deren Premiere in Berlin unter anderem auch Rammstein-Schlagzeuger Christoph Schneider zu den Gästen zählte), sich an Snacks und Getränken gütlich zu tun, die eine oder andere Zigarette zu rauchen oder zu fachsimpeln. „Während wir warten fülle ich noch ein bisschen die Journalisten ab“, witzelt Liv, die als gute Gastgeberin stets bemüht ist, dass es den geladenen Gästen an nichts fehlt.

 

Am Ende des Abends hat man sechs neue Stücke zu hören bekommen, was nicht mal der Hälfte des aufgenommenen Materials entspricht. Die Band hat bewusst mehr Stücke geschrieben, um die Vorab-EP „My Destiny“ fanfreundlicherweise mit üppigem Exklusivmaterial aufwerten zu können. Vereinzelte Songs liegen zudem in einer alternativen Akustikversion vor. Die harten Headbanger in der Tradition von „Temptation“ und „Oceans Way“ mussten leider bei der Listening Session noch unter Verschluss bleiben, man verspricht aber hoch und heilig auch ausreichend harten Stoff für einen ausgewogenen Longplayer in petto zu haben. Die klassischen Passagen von „Njord“ profitieren jedenfalls eindeutig vom zur genüge Metal-erprobten weißrussischen „Lingua Mortis“ Orchester. Bei diesem Namen sollte es bei vielen Metalheads klingeln, denn hierbei handelt es sich um das Ensemble von Rage-Gitarrenvirtuose Victor Smolski, das auch schon mehrfach gemeinsam mit dessen Band zum Einsatz kam. Zusammen mit der Erfahrung der Leaves’ Eyes Musiker, die für das letzte Atrocity-Album schon mit einem echten Orchester gearbeitet haben, punktet „Njord“ mit erstklassigen Arrangements und mitunter pompösen Klängen. Die Initiative zur Kooperation ging dabei von Smolski aus, der den Schwaben während eines gemeinsamen Festivalauftrittes in Griechenland seine Hilfe anbot.

 

Es darf davon ausgegangen werden, dass trotz satten vier Jahren, die seit „Vinland Saga“ ins Land gestrichen sind, so ziemlich jeder Fan schnell einen Zugang zu „Njord“ finden wird. Zur Abwechslung darf die Floskel vom gereiften Songwriting in diesem Fall endlich mal wieder zu Recht bemüht werden, da sich das Sextett grundsätzlich treu geblieben ist, man aber aus künstlerischer und handwerklicherer Sicht dennoch nicht auf der Stelle tritt. Hits kristallisieren sich schon früh heraus und das ausladende „Froyas Theme“ wird mit seinem Anspruch und seiner cleveren Struktur auch etwaige Kritiker schnell zum Verstummen bringen. Auf das vierte Langeisen muss man angeblich nicht wieder so lang warten wie dieses Mal, was Hüne Alex Krull wissen lässt: „Die nächste Scheibe wird definitiv deutlich schneller kommen. Dann wollen wir ein Album mit Folk-Schwerpunkt machen, uns einige Gäste einladen und haben auch sonst schon wieder viele Ideen“. Langeweile kommt im Hause Krull so schnell also nicht auf. Zumal auch das nächste Soloalbum von Liv Kristine und der nächste Death Metal Schlag von Atrocity nach und nach konkrete Formen annehmen. Schaffe, Schaffe – da kommt wieder mal das schwäbische Naturell durch. Nicht nur bei Frontfrau und Mama Liv, deren schwäbisch inzwischen nahezu perfekt ist.

 

Markus Rutten – www.sounds2move.de

 


Der zweite Aufnahmeraum im Mastersound Studio

 

Die gehörten Songs von „Njord“

 

„My Destiny“:

Zur Einleitung hört man eine schäumende Brandung rauschen und einen Seevogel schreien, bevor zuerst nur Liv Kristine und ein Piano zu hören sind, welches von fetten Gitarrenwänden abgelöst wird. Die Norwegerin lässt nicht nur in der getragenen Strophe ihre glockenklarste Stimme erklingen, während Alex’ Grunts nur sporadisch zum Einsatz kommen. Eingängige Nummer, die ihre Wahl zur ersten Single schon mit dem ersten Hören rechtfertigt.

 

„Take the Devil in Me“:

Ein “erst spät komponierter Stampfer”, wie Alex Krull erklärt. Epischer Song mit mehrstimmigem Chorus und theatralischer Schlagseite. Die Lead-Stimme darf an manchen Stellen für meinen Geschmack noch etwas deutlicher herausgearbeitet werden, was wohlmöglich bis zur finalen Version noch geschieht. Pikant: Handelt das Stück in der Originalinterpretation von einem sterbenden Wikinger, so ist der Titel für US-Amerikaner regelrecht anstößig und kann in Übersee wohlmöglich als „Teufel, der zur Hexe ins Bett steigt“ missverstanden werden.

 

 


Das Cover der "My Destiny" EP, die bereits im Juli erscheint

"Scarborough Fair":

Beginnt majestätisch mit einem Flöten-artigen Sound. Dann kommen die Gitarren dazu und machen ordentlich Druck, was später auch noch für das Schlagzeug gilt. Zwischendurch sorgt eine hörenswerte Sologitarre für Akzente, bevor Tröten, Toms und Streicher wieder übernehmen, die wiederum an das treibende Schlagzeug übergeben. Übrigens die erste Coverversion in der Geschichte der Band, da man hier ein altes englisches Volkslied adaptiert (und nicht Simon & Garfunkel, die sich der Urversion ebenfalls einst annahmen).

 

„Through our Veins“:

Wer Leaves’ Eyes letzten Sommer in Wacken gesehen hat, wird sich vielleicht an dieses Stück erinnern. Auszüge finden sich zudem auf der „Northern Winds“-DVD. „Through our Veins“ brettert direkt schön los und Liv präsentiert mehrfach ihren markanten hohen Sopran, der elfengleich durch das Studio schallt. Flott, direkt und definitiv für die Bühne geschrieben.

 


Leaves' Eyes tüfteln bis zur letzten Minute an den Songs

„Froyas Theme“:

Es folgt das Magnum Opus von Gitarrist Tosso, der dieses 8-minütige Epos als sein Baby bezeichnet. Für Komplexität und Epik sorgen satten fünf Sprachen, die im Laufe des Liedes zu hören sind – Livs Linguistikstudium sei Dank. Die Brandung von „My Destiny“ ist auch hier zu hören und wird anfangs von gezupften Gitarren begleitet, die Assoziationen mit „Into your Light“ und „Ankomst“ herstellen. Nach beschwörerischem Beginn nimmt „Froyas Theme“ mehr und mehr Fahrt auf, die Keys streuen immer wieder eine tolle Melodie ein. Auch Meister Krull darf sich mehrfach mit tiefen Grunts und einem gesprochenen Vers einbringen, stimmig platzierte Chöre (natürlich live eingesungen) bringen weiteren Tiefgang. Wow, derart komplex hat man Leaves’ Eyes bis dato noch nicht gehört. Dem ersten Eindruck nach zu Urteilen ein absolutes Highlight, das zu keinem Zeitpunkt Langeweile aufkommen lässt.

 

„Njord“:
Auch hier geht es recht ausgefeilt zur Sache. Orchester und Metal-Instrumente harmonieren großartig, Kopf und Fuß wippen automatisch mit. Wird möglicherweise der Opener des dritten Albums der Schwaben, was eine gute Wahl darstellt, da dieser Ohrwurm mit großer Melodie und angenehmer Härter besticht. Fett!

 

Link: www.leaveseyes.de