Steven Wilson "Hand.Cannot.Erase." / VÖ 27.02.2015

 

 

Ein wenig seltsam ist es schon: Jahrelang hatte sich Steven Wilson dem sogenannten „Retro-Prog“ verschlossen und dereinst auch die Beteiligung an der Ayreon-Rockoper „Into the electric Castle“ mit der Begründung abgelehnt, dass die Musik ihm „too prog“ sei. Dann veröffentlichte er vor zwei Jahren mit „The Raven that refused to sing“ ein Album, das seine 70er-Jahre-Einflüsse konsequent offenbarte und landete damit einen ganz großen künstlerischen und kommerziellen Wurf. Mit Spannung durfte man daher darauf warten, wie sich der Brite mit dem Nachfolgealbum stilistisch aufstellen würde.

 

Und, siehe da: Er hat Wort gehalten und mit „Hand.Cannot.Erase.“ keinesfalls einen neuen Aufguss seines vorangegangenen Meisterwerks vorgelegt. Stattdessen handelt es sich um ein Album, das wieder stärker an das Wirken seiner einstigen Hauptband Porcupine Tree angelehnt ist. Jedenfalls hätte eine melodiesaftige Frucht wie die poppige Ballade „Happy Returns“ so ähnlich auch am Stachelschweinbaum prangen können, und auch das zweite überaus gelungene Popstück der Platte – der Titeltrack – wäre dort allenfalls durch seine für Wilson-Verhältnisse ungewöhnliche Unbeschwertheit aus dem Rahmen gefallen. Doch nicht nur das auflockernde Einstreuen gestraffter Songs erinnert an des Meisters Prä-Solo-Phase, auch Elemente wie die abgehackten Metal-Riffs (hier aber bei weitem nicht so dominant wie bei den späten Porcupine Tree), die elektronischen Einsprengsel und sogar die generelle Melodieführung scheinen auf diese Zeit rückbezüglich zu sein. Dies soll aber nicht den Irrtum provozieren, bei „Hand.Cannot.Erase.“ handele es sich letztlich um eine Art Porcupine-Tree-Album unter anderem Namen. Vielmehr kombiniert Wilson die „wiederentdeckten“ musikalischen Ausdrucksformen kunstvoll mit solchen, die er insbesondere auf seinen letzten beiden Soloalben kultivierte: komplexe Strukturierung der Longtracks, ein (für Rockmusikverhältnisse) exzessives Spiel mit der Dynamik sowie die in songdienliche Bahnen gelenkte Virtuosität seiner Musiker, insbesondere die der Solisten Guthrie Govan (Gitarre) und Adam Holzman (Piano/Synthesizer). Lediglich die seit „Grace for Drowning“ gepflegten Jazzrockanleihen (und damit auch die Einsätze von Flötist/Saxophonist Theo Travis) sind nun weitgehend aus dem Klangbild verschwunden. Dafür kommen als neue Farbtupfer einige weibliche Leadvocals der mit einer ausdrucksstarken Stimme gesegneten Sängerin Ninet Tayeb, ein Knabenchor und eine Erzählerin (im elektroniklastigen Titel „Perfect Life“) ins Spiel. Herausgekommen ist dabei ein sehr vielseitiges, musikalisch wieder einmal durchweg erstklassiges Album mit Suchtfaktor. Abgerundet wird der musikalische Teil des Werks durch die gegenüber „The Raven...“ moderner tönende, aber ebenso fantastische, glasklare und dynamische Produktion.

 

Über die reine Musik hinaus bietet „Hand.Cannot.Erase.“ demjenigen Hörer, der tiefer eintauchen möchte, aber noch einen Zusatznutzen: Es handelt sich dieses Mal um ein Konzeptwerk über eine junge Frau, die sich aus der Gesellschaft zurückzieht und darauf aus ist, letztlich ganz zu verschwinden. Die Texte greifen diese Geschichte manchmal explizit, manchmal eher lose auf. Ihre besondere Eindringlichkeit gewinnt diese thematische Klammer aber insbesondere durch das tolle Artwork, das verschiedene Lebensstationen der (im Übrigen ziemlich hübschen) Protagonistin durch Fotos und die Abbildungen verschiedener Dokumente realistisch illustriert. Hinzu kommt ein von Wilson verfasster, auch im Internet abrufbarer Blog seiner Hauptperson, der es dem Leser in Verbindung mit den visuellen Materialien ermöglicht, die Gemütslage der Dame erstaunlich intensiv nachzuempfinden.

 

Florian Gothe - www.sounds2move.de