Steven Wilson „4 ½“ / VÖ 22.01.2016
Nachdem er uns mit „The Raven that refused to sing“ und „Hand.Cannot.Erase“ in
den letzten Jahren zwei grandiose Festmahle kredenzte, stellt Steven Wilson nun
erst einmal eine aus deren Überbleibseln zusammengestellte Zwischenmahlzeit
bereit, um die Wartezeit bis zum nächsten Gelage abzukürzen. Das könnte man
etwas despektierlich als „Resteverwertung“ bezeichnen, aber wenn – wie hier es
hier der Fall ist – selbst die „Ausschussware“ eine hohe Qualität aufweist, wäre
alles andere ja auch Verschwendung.
Los geht es auf „4½“ mit dem Neuneinhalbminüter „My Book of Regrets“, der
zusammen mit dem Material von „Hand.Cannot.Erase“ geschrieben, aber erst für
vorliegende EP aufgenommen wurde. Dementsprechend spielen auf diesem Stück neben
Wilsons Stammkräften Adam Holzman (Keyboards) und Nick Beggs (Bass) auch
Gitarrist Dave Kilminster und Schlagzeuger Craig Blundell mit, die auf der
laufenden Tour für Guthrie Govan und Marco Minnemann einspringen. Wer diese
Besetzung live gesehen hat, weiß aber, dass auch „die Neuen“ einen
ausgezeichneten Job machen. Obwohl das Lied nicht ganz an die Longtracks, welche
an seiner statt den Sprung auf das reguläre Album geschafft haben, herankommt,
handelt es sich doch um ein ideen- und abwechslungsreiches Stück Musik, das man
nicht in der Schublade hätte versauern lassen dürfen. Titel zwei nennt sich „Year
of the Plague“ (das erste von gleich drei Instrumentals auf „4½“) und stammt
noch aus den „The Raven“-Sessions, hat aber nicht allzu viel mit dem Live-Charme
dieses Albums zu tun. Es wurde bis auf das Klavier von Wilson allein eingespielt
und erzeugt eine wunderbar eindringliche Atmosphäre. Leider wirkt dieses schöne
Werk zwischen „My Book of Regrets“ und „Happiness III“ ein wenig verloren, es
hätte gewiss eine noch größere Wirkung erzielt, wenn es an passender Stelle in
ein straffer konzeptioniertes Album eingebunden worden wäre. Das bereits
erwähnte „Happiness III“ stammt aus den H.C.E.-Sessions und ist ein beschwingter
Popsong, der zwar unterhaltsam, aber im Großen und Ganzen auch recht
unspektakulär ausgefallen ist – insofern haben sich die auf H.C.E. verewigten
Pop-Perlen beim Rennen um eine Position auf dem „richtigen“ Album ganz klar zu
Recht durchgesetzt. „Sunday Rain sets in“ ist ein zunächst sehr ruhiges
Instrumental, das gegen Ende aber noch einmal einen Ausbruch verzerrter Gitarren
aufweist. Sehr schön, aber wie bei „Year of the Plague“ hätte man auch dieses
Stück im Rahmen eines „richtigen“ Albums vermutlich noch ein wenig mehr strahlen
lassen können. „Vermillioncore“ stellt dann meines Dafürhaltens das Highlight
von „4½“ dar. Der Song erinnert an Porcupine-Tree-Instrumentals wie „Mother and
Child divided“ oder „Wedding Nails“, macht ebenso wie diese Gebrauch von
verstörenden, aber effektvoll und passend eingesetzten Sounds, elektronischen
Elementen und – nicht zuletzt – harten Gitarren. Tastenzauberer Holzman bringt
subtil einige flinke Läufe unter, ohne dabei die im Grundsatz simple Struktur
und die düstere Atmosphäre des Liedes zu stören. Sehr gut! Zum Abschluss gibt es
mit „Don’t hate Me“ noch die Neueinspielung eines – zweifellos großartigen –
Porcupine-Tree-Songs. Ob diese Neuaufnahme wirklich notwendig war, darüber kann
man natürlich trefflich streiten. Die gesangliche Beteiligung von Ninet Tayeb
und das coole E-Piano-Solo von Holzman sind aber beispielsweise neue Elemente,
dank derer sich die 4½-Version auch tatsächlich bis zu einem gewissen Grad vom
Original unterscheidet. Schön wäre es aber gewesen, wenn man (wie es in der
Live-Situation der Fall ist) Dave Kilminster noch Platz für ein ausuferndes
Gitarrensolo gegeben hätte, um die Neufassung noch deutlicher von der
ursprünglichen abzusetzen.
Florian Gothe - www.sounds2move.de