Slipknot ".5 - The Gray Chapter" / VÖ 17.10.2014

 

 

Das Phänomen ist zurück. Nicht weniger als sechs Jahr ist es her, dass "All Hope is gone" veröffentlicht wurde, und trotz aller Veränderungen (bekanntlich ist in der Zwischenzeit Bassist Paul Gray verstorben, außerdem wurde Drummer Joey Jordison ersetzt) ist alles in vielerlei Hinsicht wie immer bei Slipknot. So schafft der Iowa-Neuner beispielsweise das, was heutzutage eigentlich unmöglich scheint: In einer Zeit, in der man meint alles gehört und gesehen zu haben, in der sich Informationen im Tempo eines Wimpernschlags verbreiten und nichts mehr geheim zu sein scheint, schaffen es Slipknot nach wie vor aus sich ein Mysterium zu machen. Da genügt es schon ein wirres Sound-Kauderwelsch auf die offizielle Website zu laden und zwischendurch für Sekundenbruchteile verstörende Grafikfragmente aufblitzen zu lassen, um die Nerven der Fans bis zum Zerreißen zu spannen.

 

Wahrscheinlich ist gerade der eher zähe Informationsfluss das, was einen Teil der Faszination an dieser Band ausmacht. Hier heißt es nämlich nicht nur wie bei den meisten Kapellen "Wie klingt wohl die neue Scheibe", sondern die Spekulations- und Diskussionsgrundlage geht weit darüber hinaus. Wer wird neu zur Band stoßen? Wie sehen die neuen Masken aus? Wird es überhaupt jemals wieder eine neue Platte geben? Die letzte Frage können wir mittlerweile natürlich beantworten, und auch die neuen Masken wurden inzwischen enthüllt und von den Maggots ausladend diskutiert und analysiert. Über die neuen Musiker hingegen gibt es mal mehr und mal weniger stichhaltige Theorien, offiziell ist allerdings nichts verkündet worden und so dürfte es vermutlich auch bleiben. Denn auch in dieser Hinsicht haben Slipknot eine Sonderstellung inne: Obwohl einer der kreativen Köpfe tragisch verstorben ist und eines der Aushängeschilder und Sprachrohre von seinem Amt entbunden wurde, ist diese Band als großes Ganzes doch mehr als seine Einzelteile. So entstand auch "The Gray Chapter" wieder in einem schmerzhaften, kräftezehrenden kreativen Prozess, und auch die eine oder andere Priese Chaos und Anarchie blitzt zwischen den Zeilen hervor. Niedergeschlagen hat sich diese Zäsur in 14 neuen Songs (plus Bonustracks), die den Ritt auf der Rasierklingen fortsetzen, für den die Band seit jeher steht. Manche Extreme des Vorgängers sind verschwunden, etwa das Grind-Inferno des Titelstücks "All Hope is gone". Auch die Gänsehautnummer "Snuff" findet auf "The Gray Chapter" keinen Bruder im Geiste, schließlich will man sich nicht wiederholen, sondern sich auch ein Stück weit von der Vergangenheit emanzipieren. Paul Gray war wichtig für Slipknot, aber an dem Tag, an dem entschieden wurde, dass es ohne ihn weitergehen würde, war auch allen klar, dass weder eine Kopie von dessen Vision, noch ein anbiederndes Traueralbum wirklich eine Option ist. Also erhalten die neun Maskenmänner einerseits ihre unvergleichliche Aura, machen die Dinge aber wie seit Jahr und Tag auf ihre eigene Weise. Da ist die Auskopplung "The Negative One", brutal und doch irgendwie eingängig und durchzogen von einem durch Mark und Bein gehenden Quietschen, das unbehaglich und hypnotisierend zugleich ist. "Cluster" und "Sarcastrophe" sind da direkter und hauen dem Zuhörer lieber direkt in die Fresse. Für Erholung sorgen zwischendurch Stücke wie "The One that kills the least", das den melodischsten Chorus des Album spendiert bekommen hat. Für eine Verschnaufpause im Backpfeifengewitter ist auch der Refrain von "Nomadic" zu gebrauchen. Die fetteste Symbiose aus Geprügel in der Strophe und einem (für Slipknot-Verhältnisse) rockigen, schmissigen Chorus präsentiert hingegen "Skeptic", das live ziemlich fett werden dürfte. Als Quasi-Namensgeber der anstehenden Tour wird vermutlich auch "Be prepared for Hell", ein Interlude mit verstörender Horror-Atmosphäre, seinen Weg ins Set finden. Gut vorstellbar, dass die Nummer als Intro herhalten wird.

 

Was ist es also, das Slipknot zu einem Gesamtkunstwerk macht, zu mehr als einer Band, sondern eher einer Bewegung? Einerseits schottet man sich ab wie kaum eine andere Formation, trotzdem gelingt Corey Taylor und Co. das Kunststück, den Fans das Gefühl zu geben ganz nah dran und Teil von etwas Besonderem zu sein. Auch das ist eine Kunst, die man kaum lernen kann. Aber lassen wir das ewige Analysieren doch einfach und lassen stattdessen ".5 - The Gray Chapter" auf uns wirken. Hier wird uns nämlich ein richtig fettes Brett vor die Kauleiste gehauen, das perfekt in die Ahnenlinie seiner Vorgänger passt und die Ausnahmestellung dieser Jungs aus dem US-Hinterland rigoros untermauert. The Beast is back.

 

Markus Rutten - www.sounds2move.de