Marillion “Live From Cadogan Hall” / VÖ 18.02.2011

 

 

Ihren Mut zum Experimentieren haben Marillion schon des Öfteren bewiesen. Vielleicht liegt das auch daran, dass gerade jener Mut, scheinbar in Stein gemeißelte Elemente des eigenen Sounds zu Gunsten von etwas Neuem hinfort zu wischen, der Band einst vielleicht die Karriere gerettet hat oder, je nachdem wie man es sieht, eine zweite Karriere bescherte. Nachdem Sänger Derek W. Dick alias Fish, der das Erscheinungsbild der Band mit seinem Auftreten und seinen Texten bis dahin entscheidend geprägt hatte, nach dem vierten Marillion-Longplayer "Clutching At Straws" seinen Hut nahm und eine Solokarriere begann, beschmutzten die Briten das Ansehen dessen, was sie bis dahin erreicht hatten, nicht damit, dass sie zu einer Kopie ihrer selbst verkamen. Stattdessen engagierten sie mit Steve Hogarth einen neuen Frontmann, der sich ganz deutlich von seinem Vorgänger absetzte, der eine ganz andere Stimme und eine andere Ausstrahlung hatte als dieser und dessen Art, Melodien zu gestalten, mit der bis dato gepflegten Herangehensweise brach. Diese, wenn man so will, "Marillion 2.0" bestehen so nun schon seit über zwanzig Jahren und können auf eine ganze Reihe von Alben zurück blicken, mit denen sie, wenngleich nicht immer auf dem gleichen kompositorischen Level, ihre Fangemeinde einer enormen Bandbreite an Stilistiken ausgesetzt haben.

 

Dementsprechend haben die fünf Musiker auch bei ihrer Akustik-Tour im Jahre 2009 keine halben Sachen gemacht und tief in die Arrangements der dargebotenen Lieder eingegriffen. Das Abschlusskonzert der entsprechenden Tour wurde mitgeschnitten und ist jetzt auf 2-CD und DVD erhältlich. Die Songs der ersten CD sind in dieser Form bereits vom Akustik-Studio-Album "Less Is More" bekannt, während CD 2 noch mit einigen zusätzlichen Überraschungen aufwartet. Wobei: "Akustik-Versionen" im engsten Sinne sind hier sicherlich nicht alle Tracks, zumal Steve Rothery sich des Öfteren seiner elektrischen Gitarre bedient. So man sich aber zum Beispiel sein schönes Solo auf "Quartz" anhört, wird man verstehen, dass es nicht sachgerecht gewesen wäre, wenn der inzwischen ziemlich aufgedunsene Saitenkünstler auf das Instrument verzichtet hätte, auf dem er nun einmal am Besten ist. Und eine "Akustik-Atmosphäre" im Sinne einer neuen, reduzierten Herangehensweise bieten die Stücke auf jeden Fall. Denn, wie bereits angedeutet, haben sich Marillion in den meisten Fällen nicht darauf beschränkt, die Noten der Originalstücke schlicht auf andere Instrumente umzuverteilen, sondern ihre Werke teils völlig neu erfunden. Man nehme hier etwa "You're Gone" als Beispiel: Der in der "Marbles"-Fassung durch einen Drumcomputer erzeugte Drive wird hier ganz anders, nämlich durch eine von Pete Trewavas ruppig angeschlagene Akustikgitarre erzielt. Oder man nehme die die Neufassung von "Gazpacho", die in den Strophen fast nur noch den Text mit der Version von "Afraid Of Sunlight" gemein hat. Lediglich zu einem hat dem sympathischen Haufen anscheinend doch noch der Mut gefehlt: Nämlich dazu, auch einen der Songs aus der Ära Fish so radikal verändert aufzuführen.

 

Dementsprechend ist "Live From Cadogan Hall" nicht die richtige Liveplatte, um als Neueinsteiger einen repräsentativen Querschnitt durch das Schaffen der Band zu erhalten. Aber dafür handelt es sich um eine für Freunde der Band sehr interessante und lohnenswerte Investition.

 

Florian Gothe – www.sounds2move.de