Liv Kristine „Skintight“ / VÖ 27.08.2010

 

 

Eine (im positiven Sinne) musikalische Schizophrenie kann man der Norwegerin Liv Kristine sicher nicht absprechen. Man, oder besser Frau, hat in erster Linie natürlich Leaves’ Eyes, macht aber auch jeden Schlenker ihrer Männer bei Atrocity mit, ist sich für so unterschiedliche Künstler wie Umbra Et Imago und Cradle of Filth nicht zu schade und frönt zu allem Überfluss auch noch einer Solokarriere, die im weitesten Sinne dem anspruchsvollen Pop zuzuschreiben ist.

 

Keine Frage: Liv Kristine sucht und braucht die Abwechslung. Da ist es nicht überraschend, dass „Skintight“ wieder ein bisschen anders klingt als sein Vorgänger. Während „Deus Ex Machina“ vor vielen Jahren noch durch findige Produzenten von oben herab diktiert wurde, war „Enter my Religion“ ein Zugeständnis an das eigene musikalische Ich, eine Art Spiegelbild der persönlichen Vorlieben und Visionen und eine klare Absage an etwaige Kompromisse. Nicht weg zu diskutierendem Talent sei Dank wurde aus dem Album dennoch kein trotziger, sich in pseudo-exotischen Experimenten verlaufender Egotrip, sondern ein gutklassiges, ja fast schon zeitloses Popalbum – diverse Ohrwürmer inklusive.

 

Am ehesten knüpft jetzt noch „Love in Grey“ mit teils sehr hoch gesungenen Passagen an diesen Sound an, obwohl ähnlich sphärische Gitarrenklänge wie hier im hintern Teil des Songs auf dem Vorgänger nicht wirklich auszumachen waren. Die anderen Stücke haben sich noch weiter in neue Territorien vorgewagt. „Boy at the Window“ beispielsweise kommt mit sanftem Marschbeat und wechselnden Gesangsstilen daher, was Assoziationen mit den 80ern und den damals vorherrschenden Klängen im Pop-Bereich hervorruft. Das titelgebende Stück „Skintight“ klingt da schon moderner, ohne dass man einen wirklich stimmigen Vergleich zu einem anderen Künstler ziehen könnte – eigentlich das größte Kompliment, das man einem Popsong heutzutage machen kann. Stimmlich hören wir Liv Kristine hier überaus unverkrampft und direkt, denn die Wahl-Schwäbin muss nicht wie sonst gegen die Wucht einer Krull’schen Leaves’ Eyes-Produktion ansingen, sondern darf überaus natürlich mit ihrer klaren Gesangsstimme arbeiten. Apropos Leaves’ Eyes: Mit dem dritten Alleingang hat sich Liv noch einmal weiter von ihrer Hauptband entfernt, was unter anderem daran festzumachen ist, dass „Skintight“ einen insgesamt ruhigeren Eindruck hinterlässt als „Enter My Religion“. Dieser Umstand stört aber nicht weiter, da dennoch genug hängen bleibt, um dieses Album davor zu bewahren, auch nur ansatzweise am Ohr vorbei zu plätschern. Hörenswert sind unter anderem das schwungvolle „Train to Somewhere“ und das angerockte, minimal an Garbage und No Doubt erinnernde „Emotional Catastrophies“. Dass die Piano-Ballade „The Rarest Flower“ diese Scheibe beschließt, wirkt wie ein nachdrücklicher Hinweis, dass das hier ein Pop-Album ist und auch sein soll. Aber eines im besten Sinne und nicht als das substanz- und niveauaberkennende Schimpfwort, als das „Pop“ in den letzten Jahren leider vorzugsweise verwendet wurde.

 

Markus Rutten – www.sounds2move.de / 22.08.2010