Kamelot "Haven" / VÖ 08.05.2015

 

 

 

Als Kamelot vor drei Jahren "Silverthorn" veröffentlichten und gleichzeitig ihren neuen Sänger Tommy Karevik präsentierten, hatten nicht wenige Fans feuchte Handflächen, ob überhaupt jemand dem großen Charismatiker Roy Khan würde das Wasser reichen können. Heute wissen wir, dass dem zumindest stimmlich so ist, denn der Neue klingt dann doch unüberhörbar nach seinem Vorgänger. Aber warum hätte man auch ein unnötiges Risiko eingehen sollen, zumal der Schuss auch hätte leicht nach hinten los gehen können, wenn ein möglicher Neuzugang am Ende so gut zu Kamelot passt wie Lockenwickler zu Matthias Sammer. Die Fans sahen es ähnlich und haben ihre Herzen im Sturm erobern lassen. Wenn nun nicht auch "Haven" die Anhängerschaft verzückt, dann fresse ich einen Besen.

Denn nicht nur haben die Vereinten Nationen des episch-progressiven Metals (USA, Deutschland, Schweden) einmal mehr ihre handwerkliche Überlegenheit dokumentiert, sondern auch ihre inoffizielle Langzeitstudie weiter vorangetrieben wie viele saustarke Alben man eigentlich am Stück veröffentlichen kann, ohne dass es dem Zuhörer langweilig wird oder sich ein fades Geschmäckle einschleicht. Um dem vorzubeugen hat man sich diesmal dazu entschlossen, "Haven" eine zusätzliche Portion Härte zu gönnen, die Band und Album gleichermaßen gut zu Gesicht steht. Da wäre der kraftvolle Hochgeschwindigkeitsbrecher "Liar Liar" mit sehr gut inszenierten Grunts und zusätzlich klarem Frauengesang, den abermals Band-Freundin Alissa White-Gluz (Arch Enemy) beigesteuert hat - ein klassischer Kamelot-Gassenhauer! Sogar noch schneller, härter und aggressiver ist "Revolution" geraten (ebenfalls mit Alissas Grunts), das zudem verhältnismäßig kalt und modern klingt und einen schönen Kontrastpunkt beispielsweise zu "Veil of Elysium" mit seiner majestätischen Gitarrenarbeit bietet. Am größten ist aber der Sprung zur bombastisch-theatralischen Schmachtballade "Under grey Skies", einem Duett mit Charlotte Wessels (Delain), das sich als mächtige Gefühlsduselei herausstellt, von den Fans aber ziemlich sicher schnell abgöttisch geliebt werden wird. Eher ungewöhnlich ist die Tatsache, dass es sich beim Titelstück "Haven" nicht nur um ein Instrumental handelt, sondern dass dieses auch nur knapp über zwei Minuten lang ist und nicht als Intro, sondern als Outro dient. Eigenwillig, aber nach dem gehörigen Arschtritt "Revolution" zweifelsohne ganz bewusst platziert, um dem Album einen stimmungsvollen Abgang zu ermöglichen. Somit bleibt im Grunde alles beim Alten: eine hochtalentierte Band aus großartigen Musikern, die gemeinsam geile Songs und reihenweise Hits ("Insomnia") schreiben, das Ganze mit einer beängstigend klaren und druckvollen Produktion versehen (Sascha Paeth) und die Konkurrenz damit verdammt alt aussehen lassen. 

Markus Rutten - www.sounds2move.de