Halestorm "Into the Wild Life" / VÖ 10.04.2015

 

 

 

Nennen wir das Kind einfach mal beim Namen: "Into the Wild Life" von Halestorm ist keine Liebe auf den ersten Blick. Was nicht misszuverstehen ist als Enttäuschung, sondern eher als Verunsicherung, die daher rührt was für einen Coup das Quartett mit dem Vorgänger "The strange Case of..." gelandet hat. Persönlich würde ich die Scheibe zu den besten Rockalben zählen, die in den vergangenen fünf bis sechs Jahren das Licht der Welt erblickt haben. Davon ist dessen Nachfolger - zumindest auf den bereits erwähnten ersten Blick - erst einmal ein ganzes Stück entfernt.

 

Ein Aspekt, der den Vorgänger so stark macht, ist auch der Umstand, dass man sich zu dem ungewöhnlichen Schritt entschlossen hat, in der Albummitte eine Art "Balladenblock" zu setzen. Ein Schritt, der auch nach hinten los gehen kann, wenn auch nur ein "falscher" oder "zu schlechter" Song die Hierarchie zerstört - was nachweislich nicht geschehen ist. Einen derartigen roten Faden oder Masterplan besitzt "Into the Wild Life" nicht, denn Halestorm nehmen den Titel durchaus wörtlich und präsentieren uns eine erst mal recht Wild anmutende Ansammlung neuer Songs. Dazu gehören auch ungewöhnliche Experimente, allen voran der sehr zurückhaltende Hangover-Song "What sober couldn't say", aber auch der herausfordernde Opener "Scream", der das Album nicht wie "Love bites" auf dem Vorgänger mit einem rotzigen Knall eröffnet, sondern sich eher anschleicht und Atmosphäre aufbaut, sich langsam steigert und mit teils technoid verzerrten Vocals überrascht. Der Übergang zu "I am the Fire" ist dann fließend (derlei Übergänge gibt es übrigens viele), hier servieren Halestorm das erste richtig mächtige Brett, dessen Potential sich schnell zu erkennen gibt, vor allem durch die überragende Gesangslinie und das erste Ausrufezeichen von Lzzy Hale. Die ist sich auch diesmal nicht für einen amtlichen Seelenstrip zu schade und kehrt in der Gänsehautballade "Dear Daughter" ihr Innerstes nach außen. Es ist davon auszugehen, dass auch die in der Zwischenzeit veröffentlichte zweite Cover-EP ihre Spuren auf "Into the Wild Life" hinterlassen hat: Wo "Love bites" noch das geistige Erbe von "Slave to the Grind" (Skid Row) angetreten hat, stand diesmal "Gold Dust Woman" (Fleetwood Mac) Pate für "New Modern Love" mit seiner Nähe zu Country und Southern Rock. Wer genau hinhört, findet noch mehr solcher kleinen Verweise und gerade solche eigentlichen Randnotizen sind es, die Halestorm zu einer greifbaren, nachvollziehbaren Band machen. Man hört wo die vier Freunde her kommen, was ihren kreativen Weg beeinflusst und kann - so blauäugig sich das anhören mag - sich irgendwie als Teil davon fühlen. Da verzeiht man auch schon mal einen potentiellen Skip-Kandidaten wie "Sick Individual", denn man bekommt im gleichen Atemzug einen verführerisch stampfenden Rocker wie "Amen", das Wilde "Mayhem" oder "I like it heavy", eine treffend definierte Ode an den Krach, weitestgehend live eingespielt, mit mächtig übersteuertem Gesang und musikalischer Affinität für die alten Helden des Rock ´n´ Roll.

 

Wenn "Gonna get mine" mit seinen "Nanana"-Singalongs dann auch noch die Brücke zu "Daughters of Darkness" vom Vorgänger schlägt, fühlt man sich mit jedem Durchlauf heimischer auf "Into the Wild Life", das einem seinen Charme nicht wie eine Straßenhure hinterher wirft, sondern wie eine feine Lady erobert werden will. Wer sich ein klein wenig bemüht, kann mit diesem Album lange und viel Freude haben und bekommt eine Band zu hören, die nicht auf Nummer sicher geht, sondern sich einfach durch die eigenen Ideen und Vorlieben treiben lässt. Wenn man noch unter 30 ist und trotzdem schon einen Grammy auf dem Kaminsims stehen hat und seit geraumer Zeit bis zu 250 Shows pro Jahr spielt, führt man definitiv ein bisweilen seltsames aber auch ziemlich Wildes Leben zwischen Rock ´n´ Roll-Euphorie, Metal-Inbrunst und intimen, zerbrechlichen Momenten. "Into the Wild Life" ist der Soundtrack zu genau diesem Leben.

 

Markus Rutten - www.sounds2move.de