Enslaved „Vertebrae“ / VÖ 26.09.2008

 

 

Die Norweger Enslaved haben mit "Isa" und "Ruun" das geschafft, was auf den vorherigen CDs noch Experiment, manchmal auch Stückwerk blieb: King Crimson- und Pink Floyd-artige Sequenzen mit harschem Black Metal nicht nur zu verbinden, sondern alle möglichen musikalischen Stilelemente miteinander zu schlüssigen Songs zu verschmelzen. Das setzt die Band anno 2008 mit ihrem neuen Opus "Vertebrae" fort. "Clouds" eröffnet mit moderneren, beinahe postrockartigen Klängen, der Bass pumpt unermüdlich, graue Wolken ziehen am Firmament vorüber, nur um von noch gewaltigeren Wolkengebirgen verdrängt zu werden. Klargesang und mächtige Growls begleitet von metallischen Gitarrenlicks treiben den Song voran, der sich, wie so oft bei Enslaved nicht an gewöhnliche Songstrukturen halten will. Das Solo ist trefflich gesetzt, die Naturvertonung funktioniert hier nicht durch das Heraufbeschwören kratziger eintöniger Atmosphäre, sondern durch Integration verschiedenster tonaler Facetten und Farben zu einem stimmigen Ganzen. Enslaved wissen, dass sich im trostlosesten Grau immer auch kleine Farbtupfer befinden und auf solche lenken sie den Blick, auf den orange-blauen Kern des Feuers, das blendende Weiß des Schnees in der bewegten Luft. Anklagend, besänftigend, rezitativ, alle stimmlichen und instrumentalen Möglichkeiten werden aufgeboten, um dem Naturerlebnis Ausdruck zu verleihen.

 

"To The Coast" vertieft die Atmosphäre, ruhige akustische Parts in Abwechslung mit hämmernden Licks und dazu fauchenden Vocals führen mitten hinein in blattlose, düster-herbstliche Baumgruppen. Enslaved werden allmählich Meister im Verquicken der verschiedensten Stile; der (zumeist schnelle) blackmetallische Anteil ist nicht geringer geworden, er zeichnet für energische Gefühlsausbrüche verantwortlich, die stillen Parts lassen innehalten. "Ground" beginnt mit den tollen Klargesängen von Grutle, nur um einer ganz gemeinen, bösen Stimme zu weichen; ist das jetzt der Holländermichel tief im grünen Tannenwalde? Das Solo und das Iron Maiden-Finale sind grandios. Warum gefällt mir die Entwicklung von Enslaved besser als die von Opeth? Weil sie trotz aller progressiven Elemente auf einem hohen Härtelevel verbleiben und ihre schwarzmetallischen Wurzeln in jedem Song ausspielen, nicht nur als Alibi. "Vertebrae", der Titeltrack des Albums beginnt mit verzerrten Stimmen zu modernen hellen Gitarrenanschlägen. Ein vielschichtiger Song baut sich monumental auf, wir erklimmen den Grat, monotone, chorale Klargesänge weisen den Weg. "New Dawn" erinnert in Hooks, Keys, Geschwindigkeit, Härtegrad und Aufbau an früher, wir erinnern uns natürlich gern an "Blodhemn". Der düstere Zwischenpart, beschwört er die Schatten oder soll er sie vertreiben? "Reflections" wildert in den finsteren Abgründen der Seele, schräge, aber doch erkennbare nordische Leads durchziehen den Song geheimnisvoll. Die Gitarrenlinie erinnert stark an älteste schwarzmetallische Norwegervorbilder von Anfang der Neunziger. Grutle knurrt und keift ausdruckstark, eine Stimmenvariation kommt hier kaum in Frage, obwohl, am Ende gibt es doch erlösende, beinahe versöhnliche Backgroundchöre.

 

"Center" vereint Black-Doom mit lauerndem Gesang, unglaublich, was Grutle seiner Kehle alles entlocken kann. Geil! Das schwebende Riff drückt den Hörer förmlich zu Boden, vergesst läppischen Doom mit Power Metal-Vocals. Hört diese Steigerung innerhalb der Strophe, das atmosphärisch-hypnotische Break, die Kontemplation, die Öffnung der Seele für naturmystische Wunder. Das Finale "The Watcher" tönt im Gleichmaß; Grunts und Cleanvocals wechseln, die Spitze der Transzendenz ist erreicht. Es ist eine durchgängig herausragende Veröffentlichung, die der geneigte Hörer sich erschließen muss. Es ist wie bei Umberto Eco: das "Foucaultsche Pendel" kann ja auch nicht mal eben so nebenbei wie "Fix Und Foxi" gelesen werden, oder? Diese CD ist allen Tellerandhörern des metallischen Genres zu empfehlen; solchen, welche Cult Of Luna, Neurosis, Krohm, Bergraven oder Emancer hören ebenso wie Opeth-, Arcturus- oder Borknagarjüngern.

 

ME – www.sounds2move.de /  22.09.2008