The Dresden Dolls "Yes, Virginia" / VÖ 21.04.2006

Vom Avantgarde-Geheimtipp zum Mainstream, von Null auf Hundert: Bereits mit ihrem selbstbetitelten Debüt haben es The Dresden Dolls geschafft, Schlipsträger, Freunde intellektueller Musik, Rocker wie auch Gothicfans mit ihrer unkonventionellen und kunstvollen Darbietung zu begeistern. Eine ausverkaufte Headliner-Tour sowie Auftritte unter anderem mit Nine Inch Nails sprechen da für sich. Die Kritiker waren entzückt und in seltener Eintracht: Brecht, Weil, Kabarett, Punk - Schlagworte, auf die keine Rezension verzichten konnte. Eine sehr spezielle Nische, die The Dresden Dolls allerdings auch nicht unbeabsichtigt bezogen haben: In schwarz-weißes Licht getönt, mit weißer Schminke und Melone ausgestattet, setzten sich Amanda Palmer und Brian Viglione visuell gekonnt anspruchsvoll in Szene und bezeichnen sie sich selbst auf ihrer Homepage als das Brechtian Punk Cabarett. 

So zutreffend und gewollt, The Dresden Dolls waren und sind jedoch mehr als nur ein Schlagwortphänomen, mehr als eines jener wunderhaften Phänomene, die in regelmäßigen Abständen die Musikwelt gehörig durcheinanderwirbeln, um dann ebenso schnell wieder in Vergessenheit zu geraten. The Dresden Dolls sind die kunstvolle Verbindung von Musik und Visuellem, von hervorragenden Künstlern/Musikern mit ungewöhnlichen, großartigen Liedern, die man sehen muss, um sie verstehen. Ungewöhnlich für eine junge Band, folgerichtig aber gerade deshalb für The Dresden Dolls, dass sie bereits kurz nach ihrem Debüt die DVD "Paradise" veröffentlichten. Mit "Yes, Virginia" liegt nun der zweite Longplayer der amerikanischen Duos vor. Und "Yes, Virginia" ist, soviel sei vorab gesagt, die konsequente musikalische Weiterentwicklung des Debütalbums. Geradliniger und ungekünstelter, nicht aber ohne den gewohnten Pathos und dem typischen schwarzen Humor der Dresden Dolls ist "Yes, Virginia" weniger schablonenhaft als das Debüt. Weniger weißer Schminke, die Schlagworte beiseite gelegt, tritt auf "Yes, Virginia" das in den Vordergrund, was The Dresden Dolls eigentlich wirklich auszeichnet: großartige Musik auf hohem Niveau. Der Titel "Yes, Virginia" bezieht sich dabei auf einen 1897 in der New York Sun veröffentlichten Brief der damals 8-jährigen Virginia O'Hanley, die den Reportern eine der simple, philosophische Frage stellte: Gibt es den Weihnachtsmann wirklich? In der Ballade "Mrs. O", die sich mit dem gefährlichen Charakter einer alten Frau auseinandersetzt, die den Holocaust verleugnet, wird Bezug genommen auf diesen Brief: Mit kindlichem Staunen und zaghaftem Optimismus versucht Amanda Palmer hier auf die unerklärlichen Fragen des Lebens zu antworten. Mit zum Teil düsteren Antworten, nicht aber ohne zaghaft einen Hauch Optimismus zu versprühen: Yes, Virginia.

In den 13 Songs auf "Yes, Virginia" setzen sich Palmer/Viglione einmal mehr mit den ganz universellen Themen des Lebens auseinander: Sex, Liebe, Angst, Schmerz, Drogen. Den Sinn fürs Absurde lassen sie aber auch auf ihrem zweiten Album wieder nicht vermissen: So zum Beispiel in "Mandy Goes To Med School", in dem illegale Abtreibung verniedlicht wird und den schwarzen Humor der Beiden wiederspiegelt. Mit großem Pathos erzählen "My Alcoholic Friend" oder "Sex Changes" großartige, alltägliche Geschichten, bei "First Orgasm" oder "Me & The Minibar" legt Amanda Palmer hinter ihrem Piano feine, zerbrechliche Geständnisse ab. Überhaupt beweisen The Dresden Dolls auf "Yes, Virginia" einmal mehr ihre Fähigkeiten für bewegende Balladen wie alleine das großartige Delilah eindrucksvoll belegt. Der Etikette Punk-Cabarett am ehesten gerecht werden die schnelleren Songs des Album wie "Modern Moonlight", das zum würdigen Nachfolger der Hitsingle "Coin-operated Boy" avancieren dürfte, oder "Necessary Evil", bei den Viglione seine Fähigkeiten an den Drums bestätigt. Sing dagegen, der letzte Track des Albums und zugleich die erste Singleauskopplung, ist erneut ein eher balladesker Song mit fragilen, aber positiven Zügen. "Life is no cabaret, we're inviting you anyway", bekennt Amanda Palmer in diesem. Eine Absage an die eigene Reduktion auf die Weil-Brecht-Punk-Kabarett-Klassifizierung? Vielleicht die simple Einladung in die Welt zweier Musiker, die kein Kabarett ist, in der Kabarett aber verbindendes Element und zugleich Symbol für Individualität ist.

Christine Schams - www.sounds2move.de / 09.04.2006