Chris Cornell "Higher Truth" / VÖ 18.09.2015

 

 

 

Gerechtfertigt oder nicht: Für sein letztes Album "Scream" musste Chris Cornell einige Kritik einstecken. Von daher könnte man den Eindruck gewinnen, er wollte erst einmal Gras über die Sache wachsen lassen, was die schlappen sechs Jahre Wartezeit auf "Higher Truth" erklären könnte. Persönlich finde ich beides unangebracht, denn für das, was "Scream" sein sollte, das seinerzeit in Kooperation mit Platin-Produzent Timbaland entstand (der zugegeben vor allem im R'n'B und Hip Hop seine Sporen verdient hat), war die Platte schlichtweg großartig. Dass einige Fans das Album von vornherein mieden wie der Teufel das Weihwasser ist dann allerdings auch ehrlich gesagt deren Problem, denn zum einen sind Soloalben immer auch ein Ventil für Experimente, zum anderen waren genug Hits ("Long gone", "Ground Zero", "Climbing up the Walls") auf der Scheibe zu finden. "Entwarnung" kann man trotzdem geben, denn "Higher Truth" schlägt in eine ganz andere Kerbe.

 

Die mehrteilige "Songbook"-Unplugged Tour durch die USA und das dazugehörige Live-Album versöhnten nicht nur viele Fans, sondern zeichneten rückblickend betrachtet auch den Weg vor, den Chris Cornell mit seiner neuen Platte nun naheliegenderweise einschlägt. So ist "Higher Truth" nicht nur in Sachen Artwork mit einer schlichten Eleganz ausgestattet, sondern auch die Songs sind deutlich reduzierter als noch auf dem Vorgänger. Ein richtiges Akustik-Album, wie zwischendurch immer mal wieder gemunkelt wurde, ist es dennoch nicht geworden, denn hin und wieder greift der Soundgarden/Ex-Audioslave Frontmann natürlich auch gerne mal zur Elektrischen, wobei in der Tat die Akustikklampfe eine weitaus größere Rolle in den meisten Songs spielt. So ist "Higher Truth" ein im positiven Sinne leichter, dazu noch abwechslungsreicher Longplayer geworden, der gar nicht so sehr ein bestimmtes Genre bedienen will (oder überhaupt kann), sondern vor allem in den Fokus stellt, was für ein begabter Songwriter Chris Cornell eigentlich ist (sollte das irgendjemandem bisher verborgen geblieben sein). Wie zur finalen Absicherung hat sich der charismatische Sänger in die Obhut von Brendan O'Brien (Bruce Springsteen, AC/DC, Billy Talent) begeben, der auch die letzten Zweifel auslöscht, dass hier auch nur irgendetwas schief gehen könnte. Entsprechend wenig überrascht die Sicherheit, mit der tolle Songs wie "Dead Wishes" und "Before we disappear" aus dem Ärmel geschüttelt werden, während "Let your Eyes wander" mit seiner lieblich gezupften Gitarrenarbeit und "Our Time in the Universe" mit einer immer wieder kurz aufflackernden orientalischen Melodielinie aufhorchen lassen. Der Bonustrack "Bend in the Road" (einer von deren vier) versprüht dagegen durch Mundharmonika, Hammondorgel und sehr dezente Gospel-Chöre wohlig warmes Südstaatenflair. Da ist man fast schon ein bisschen irritiert, wenn der Titeltrack "Higher Truth" unerwartet in verzerrten Krachkaskaden endet, die man dieser Platte eigentlich gar nicht zugetraut hätte.

 

Völlig neu sind diese nachdrücklich zu Tage geförderten Facetten für Chris Cornell-Kenner natürlich nicht (vgl. "Scar on the Sky", "Sweet Euphoria" etc.), im Gegenteil tut er sogar gut daran, seine Hörer nicht wie beim viel diskutierten Vorgänger einfach zu überrumpeln. In Sachen Konsequenz geben sich beide Scheiben hingegen nichts, in dieser Hinsicht ist sich Cornell zweifelsohne treu geblieben. Wirkliche Angriffsflächen bietet die Grunge-Ikone mit ihrem vierten Studioalbum nicht, denn die Songs sprechen für sich, der Klang ist standesgemäß und die Stimme (diesmal mit verhältnismäßig wenig Gebell) ohnehin über jeden Zweifel erhaben. Wen die Soundgarden-Reunion und deren Comeback-Platte noch nicht versöhnt haben sollten, der wird spätestens jetzt wieder beide Daumen für die musikalischen Pfade unseres Helden heben. Und sogar Fans des belgischen Chartstürmers Milow könnten an "Higher Truth" ihre Freude haben.

 

Markus Rutten - www.sounds2move.de