Atrocity „Die gottlosen Jahre“ / VÖ 30.03.2012

 

 

 

In einer Beziehung passt der Titel von Atrocitys Jubiläums-DVD besonders gut: „Die gottlosen Jahre“ könnte gleichzeitig auch das offizielle Motto der Schwaben sein. Konservativ, linientreu oder berechenbar war man noch nie, vor allem aber war und ist Alex Krull und seiner Mannschaft nichts heilig, was mancher Hardliner im Metal für pure Blasphemie hält.

Dementsprechend gestaltet sich auch der Streifzug durch die Bandgeschichte von Atrocity, die kaum einen Stein auf dem anderen gelassen haben. Vom Punk-inspirierten Death Metal und Grindcore der frühen Tage, über Industrial, Gothic Metal-Geburtshilfe, Electro, bis hin zu Folklore und 80er Hits – es gibt kaum etwas, das noch nicht versucht wurde, und fast immer sah man sich vielerorts missverstanden, erwies sich in der Rückschau aber regelmäßig seiner Zeit voraus. Genau das ist das Besondere an Atrocity, doch lobenswerterweise lässt man sich auf „Die gottlosen Jahre“ nicht nur Honig um den Bart schmieren und das eigene Schaffen abfeiern, sondern man räumt auch den Kollegen und Wegbegleitern viel Raum ein, lässt die generelle Entwicklung der harten Szene nachzeichnen und scheut sich nicht davor, Freunde und Kollegen beispielsweise bei „Gemini“ auch mal den Kopf schütteln zu lassen. Apropos Kollegen: Zur Geschichte der Ludwigsburger kommen im Laufe der kurzweiligen und aufschlussreichen Dokumentation unter anderem Mitglieder und Weggefährten von Carcass, Napalm Death, Kreator, Sodom, Dimmu Borgir, Lacrimosa, Das Ich, Deicide, Samsas Traum, Hypocrisy und sogar der Politpunks Wizo zu Wort. Außerdem LG Petrov von der Todesblei-Kultkombo Entombed, die – was heute kaum noch einer weiß – erstmals von Atrocity quer durch Europa mitgenommen wurden. Zur gemeinsamen Tour mit Deicide, hier waren Atrocity ihrerseits der Support, lassen sich ebenfalls einige Geschichten erzählen, obgleich diese weniger schöner Natur sind. Bomben- und Morddrohungen wegen der Äußerungen von Glen Benton waren traurigerweise an der Tagesordnung. Iin Manchester wurde ein Sprengsatz in unmittelbarer Bühnennähe vom Sondereinsatzkommando kontrolliert gesprengt, in Stockholm detonierte ebenfalls ein Sprengsatz, wobei allerdings glücklicherweise niemand verletzt wurde. Da denkt man als Beteiligter doch lieber an die gemeinsame Tour mit Sodom zurück, als man - begünstigt durch die Absage von Destruction - noch auf den Tross aufspringen und so in den Genuss der ersten professionellen Tour samt Nightliner und Crew kommen konnte. Wie sich die Zeiten ändern sieht man auch überdeutlich, wenn man die charmanten Mitschnitte der Auftritte aus früher Jugendzeit (wüste Anarchie, musikalisches Geschrubbe und regelmäßig auch Knochenbrüche bei Fans und Musikern) etwa mit dem Sci-Fi-angehauchten Bühnenkonzept zu „Gemini“ vergleicht, oder aber mit den aufreizenden Peep-Shows zu „Werk 80“ und natürlich der großen Jubiläumsshow in Wacken, die sich genau wie alle bisherigen Videoclips auf der 2. DVD befindet. Ein kleiner Kritikpunkt der großen Geburtstagsshow ist übrigens die Setlist, in der überraschenderweise einige Gassenhauer fehlen. Wo ist beispielsweise das in der Doku mehrfach zu recht hoch gelobte „Reich of Phenomena“ geblieben? Sei es drum, im Grunde ist die Live-DVD ohnehin nur eine Zugabe zur gelungenen Banddoku, die sich als überaus anekdotenreich präsentiert, wenn man etwa den ersten Coverentwurf von Mr. Krull zur „Blue Blood“ EP zu Gesicht bekommt (enthauptete Lady Diana), über die missglückte grüne Vinylfehlpressung geschmunzelt werden darf oder wenn man bei einem Infoflyer dank Standbildfunktion nachlesen kann, wie man einem Verriss seitens Rock Hard in jugendlichem Eifer verbal die Stirn bietet. Da ist schon viel Kultiges dabei, was Fans genauso wie Einsteiger problemlos bei der Stange hält. Ich will jetzt gar nicht alles vorweg nehmen, das würde ohnehin den Rahmen sprengen, sondern wärmstens empfehlen, selbst einen Blick auf „Die gottlosen Jahre“ zu werfen. Die Veröffentlichung zeigt nicht nur Bandgeschichte, sondern auch Metal-History und hilft garantiert, eine unterbewertete und oft missverstandene Band besser zu verstehen. Im Bereich Metal-DVDs ist das hier jedenfalls das erste Must-Have des Jahres.

Markus Rutten - www.sounds2move.de