ASP "Verfallen (Folge 2: Fassaden)" / VÖ 01.04.2016

 

 

 

ASP bleibt am Ball. Immer. Wo andere Auszeiten einlegen, Pausen einschieben, neue Ideen sammeln müssen, da reißt Alex Speng ein neues Projekt nach dem anderen auf. Da ist es nicht weiter verwunderlich, dass "Fassaden", der zweite Teil des "Verfallen" Doppelalbums, nur fünf Monate nach dem ersten Teil an den Start geht. Wie sang Jon Bon Jovi schon Anfang der Neuziger: „I'll sleep when I'm dead“.

 

Wobei Tod gar keine so schlechte Überleitung ist, denn Mord und Totschlag spielen in der fiktiven Geschichte von "Verfallen" rund um das Leipziger Hotel Astoria eine zentrale Rolle. Inhaltlich bleibt auch "Fassaden" stringent und hält sich an den Verlauf der Geschichte, allerdings sind die Schwerpunkte diesmal anders gewichtet. Während "Astoria" noch in die Handlung einführte und sowohl die Hauptfigur als auch das Drumherum näher beleuchtete, so widmet sich ASP diesmal schwerpunktmäßig dem Hotel und seiner entrückten Beziehung zur Hauptfigur. Etwaige andere Figuren (Loreley in "Unwesentreiben") werden bestenfalls noch in Nebensätzen ins Gedächtnis zurück gerufen, alles andere stellt ganz klar Paul und das Astoria in den Mittelpunkt. Gleichzeitig wird auch die ohnehin schon düstere Geschichte noch mal eine ganze Ecke dunkler und dramatischer, komplettes in Frage stellen mit einem der letzten Sätze des Albums inklusive. Doch bevor hier noch zu viel verraten wird, soll der Fokus auch noch auf die musikalische Ebene von "Verfallen (Folge 2: Fassaden)" gerichtet werden, und hier fällt dem aufmerksamen Kenner schnell ein Markenzeichen im ASP'schen Kosmos auf, das sich über die Jahre mehr und mehr eingeschlichen hat ins Schaffen des Frankfurters. Alex Speng hat nämlich nicht nur ein außergewöhnliches Händchen für einprägsame Hits und Hymnen (Musterbeispiel diesmal etwa das temporeiche "OdeM"), sondern er jongliert mit ihnen dermaßen clever und geschickt, dass er sich regelmäßig mächtige, ambitionierte Projekte - sprich Alben im Allgemeinen und ausladende Songs im Speziellen - leisten kann, ohne sein Publikum zu überfordern. So lange man immer mal wieder mit Hits gefüttert wird, die einen teilweise tage-, wochen- und monatelang begleiten, so lange bleibt man auch motiviert, sich den Rest eines Albums zu erarbeiten. Schließlich könnte hinter jeder Ecke der nächste potentielle Klassiker von Morgen warten. Da ist man auch gerne bereit, sich kein halbes Jahr nach dem ersten, bereits über siebzigminütigen Kapitel von "Verfallen" direkt wieder ins nächste, diesmal sogar fast achtzigminütige Kapitel zu stürzen. Und auch hier ist ASP wieder ein gewiefter Verführer, denn im Grunde beginnt das neue Album so wie das letzte endete, nämlich mit dem verdammt eingängigen Ohrwurm "Fortsetzung folgt..." respektive dessen, äh, Fortsetzung. Diesmal allerdings erweitert um eine schmeichelnde Violinmelodie (Gastauftritt von Ally "The Fiddle" Storch) und textlich variiert. Fans wird direkt auffallen, dass ASP während der ersten Strophe mit diversen Querverweisen zum eigenen Schaffen spielt, während die zweite Strophe einige Eckpunkte vom ersten "Verfallen"-Teil noch einmal aufgreift. In Form von "SouveniReprise" endet "Fassaden" übrigens wie es beginnt, nämlich mit einem halben Rückgriff ("Souvenir, Souvenir"). Dazwischen bleibt natürlich genug Spielraum für Neues und musikalische Vielfalt: "Unwesentreiben" ist bedrohlich, schleppend und mit seinen tiefen Gitarren und beschwörenden Percussions ziemlich dramatisch. "Ich lösche dein Licht" ist hingegen fast schon luftig komponiert und mit einem gefälligen Chorus und verspielten Gitarren ausgestattet, während im Hintergrund eine Spieluhr-mäßige Melodie unterschwellig ins Ohr kriecht. Gänzlich anders und überaus puristisch aufgestellt, fällt "Ich bringe dir nichts mehr" fast ein bisschen aus dem Rahmen: Hier wird keine Note zu viel gespielt, stattdessen gehören diese fünfeinhalb Minuten ASP und einem traurigen Piano allein. Wer gut aufpasst, dem wird außerdem auffallen, dass in den Texten immer wieder kleine Hinweise und Verweise auf reale Zeitgeschichte eingewoben sind (Mauerfall, Nationalsozialismus), wodurch diese eigentlich fiktive Gruselgeschichte geschickt mit der Realität verwoben wird.

 

Eigentlich ist es fast schon ein bisschen schade, dass "Verfallen" von vornherein nur als Zweiteiler konzipiert war. Die Sache gibt definitiv genug her, um die Fans längerfristig zu beschäftigen. Besonders geeignet dafür sind die limitierten A5 Digibooks zu beiden Teilen, die neben einigem Bonusmaterial auch noch die schriftliche Version von "Das Fleisch der Vielen" beinhalten, jener Kurzgeschichte von Kai Meyer, die den beiden Alben als Vorlage diente und extra zu diesem Zweck geschrieben wurde. Derart inspiriert hat ASP wieder mal ein eigenes und eigenständiges Baby geformt und einen weiteren Beweis dafür angetreten, dass es in der deutschsprachigen Rockmusiklandschaft kaum jemanden gibt, der ihm in kreativer Hinsicht das Wasser reichen kann. Er sei hiermit offiziell zum "Gothfather of Concept-Albums" ernannt.

 

Markus Rutten - www.sounds2move.de