Interview mit Nils Lindenhayn von THE OCEAN

 

 

Enthielt der Vorgänger "Aeolian" vornehmlich anspruchsvolles und ansprechendes, aber in der Bandbreite des Ausdrucks beschränktes Geknüppel, überrascht der zweite Teil von "Precambrian", "Proterozoic", mit großer Vielfältigkeit und kreativen Arrangements. Woher kommt dieser stilistische Wandel?

 

"Aeolian" und "Proterozoic" sind zwar grundverschieden, aber ein wirklicher Wandel unseres Stils ist es nicht. Es sieht nur so aus wie einer – für die Leute nämlich, die nicht die Gelegenheit hatten, die vorigen Alben ("Fogdiver" und "Fluxion") zu hören. Die sind auf zwei eher kleinen Labels erschienen und haben daher nicht so ein breites Publikum erreicht. Selbst spezialisierte Metal-Läden hatten die Platten oftmals nicht im Sortiment, und auch als Pressemensch wurde man nur bemustert, wenn man für eine hinreichend große Publikation tätig war. Album eins und zwei enthielten, wie auch Precambrian, bereits ausgedehnte instrumentale, ruhige, gänzlich knüppelfreie Passagen (die dann aber natürlich trotzdem meist in ziemliche Wutausbrüche mündeten). Aeolian war also eine Ausnahme, ein Experiment, auf dem wir gezielt minimalistisch unterwegs waren. "Precambrian" hingegen ist wieder vollends repräsentativ für das, was wir machen, und deckt die komplette Bandbreite ab.

 

Inwiefern erforderte "Proterozoic" bezüglich des Songwritings eine andere Herangehensweise als etwa "Aeolian" oder der dieser Platte stilistisch nahe stehende erste Teil von "Precambrian", "Hadean / Archaean"?

 

Eine gänzlich andere Herangehensweise war gar nicht erforderlich. Es ist nicht so, dass unserem Songwriting eine bestimmte Methode zugrunde läge, die für ein Album vielleicht eine andere ist als für ein anderes. Das Songschreiben ist für Robin, aus dessen Feder ja all unsere Musik stammt, eher eine Praxis, ein recht natürlicher Prozess, der ohne großartige Vorplanungen auskommt. Wirklich anders waren die Dinge eher nach dem Schreiben – beim Aufnehmen nämlich. "Aeolian2war ja, weil es auf Bass, Gitarre, Drums, Gesang beschränkt war, im Produktionsprozess eine recht übersichtliche Sache. Auf der neuen Platte aber, zumal auf "Proterozoic", war es eine ziemliche Herausforderung, den Überblick nicht zu verlieren, also der enormen Polyphonie Herr zu werden und dabei immer darauf zu achten, dass der Kern des Songs sauber herausgestellt wird. Auf dem Album haben wir bis zu 84 Spuren verwendet, was für das Abmischen das Anmieten eines zweiten Mischpultes erforderlich machte. Das waren also schon gänzlich andere Dimensionen als auf dem Vorgänger.

 

Wie genau sind dabei die Vorgaben, die du als Bandchef den anderen Beteiligten machst, insbesondere was die "stilfremden" Instrumente wie die Streicher und das Glockenspiel betrifft?

 

Robins Vorgaben sind im Prinzip dieselben, wie sie auch ein Musiker in einem klassischen Orchester bekommen würde, nur dass in unserem Fall Komponist und Dirigent zusammenfallen. Robin schreibt die Partituren, probt sie mit den betreffenden Musikern und leitet die Aufnahme. Der Freiraum, den z.B. unsere Pianistin dann bei der Interpretation hat, ist also recht begrenzt. Da prallen teilweise richtig Welten aufeinander: ein Solo-Pianist muss ja normalerweise die gegebene Partitur hinsichtlich Tempo oder Dynamik nach eigenem Gutdünken auslegen; man lässt klassische Aufnahmen nicht durch Kompressoren laufen, um Lautstärkeschwankungen auszubügeln; und es wäre undenkbar, dass ein klassischer Pianist eine Aufnahme nach einem Metronom einspielt – denn das alles ist ja gewissermaßen seine Handschrift, der er der Partitur, an die er sich ansonsten fast sklavisch hält, hinzufügt. Für beides ist bei uns aber kein Platz; wir sind halt eine Rockband. Der Dynamikumfang im Rock ist wesentlich geringer, und dass wir nach click spielen, ist auch eine Selbstverständlichkeit, denn der garantiert uns konstantes Tempo und ersetzt den Dirigenten, den es ja bei so vielen Musikern durchaus bräuchte. Für unsere Pianistin war das also extrem ungewohnt und, trotz oder eben wegen ihrer klassischen Ausbildung, gar nicht so einfach umzusetzen.

 

"Precambrian" wurde in mehreren verschiedenen Studios produziert. War das eine organisatorische Notwendigkeit aufgrund der Vielzahl der Beteiligten, oder ging es bewusst darum, die Atmosphäre verschiedener Orte einzufangen ?

 

Zu einem Gutteil war es ersteres. Die Herkunft der Gastsänger war zum Beispiel ein ziemlicher Faktor; wir konnten Caleb ja nicht nach Berlin einfliegen. Zusätzlich liegt es daran, dass wir einfach das Beste für den jeweiligen Zweck gesucht haben. Das Studio 57 in Alateveli hatte alles zu bieten, was wir uns gewünscht haben: einen sagenhaft gut klingenden, hohen Holzraum, ein modernes ProTools HD 4 rig und jede Menge geile alte Neve Preamps und Kompressoren... dazu einen engineer, dem wir von Anfang an vertraut haben und der wusste, wo wir herkommen und wo wir hinwollen. Aus ähnlichen Gründen haben wir uns dann auch für Andrew Schneider für den Mix und Nick Zampiello fürs Mastering entschieden, die sich auch durch ihre Arbeit für Converge, Isis, Unsane und andere hervorgetan haben. Die Auswahl der Orte war also recht zweckrationale Sache. Dass man in einem Studio die Atmosphäre eines gewissen Ortes einfangen kann, um sie dann auf Hörerseite als Halluzination wieder zu reproduzieren, halte ich für eine ziemlich romantische Vorstellung, um nicht zu sagen für ein Hirngespinst...

 


 

Ihr beschreibt "Precambrian" als ein Statement gegen die Herabwürdigung der Kunstform Musik, die von vielen nur noch als Datenmasse wahrgenommen wird. Wie schlimm ist es eurer Meinung nach um die Auffassung der Menschen von Musik bestellt? Und steht dahinter auch die generelle Ablehnung des Mediums "mp3" oder nur Sorge bezüglich der seltsamen Wurzeln, die dieses Format mittlerweile treibt?

 

Um mit deiner letzten Frage anzufangen: Nein, gegen die 20 Jahre alte Erfindung namens MP3 haben wir absolut nichts, genauso wenig wie wir etwas gegen Schallplatte, Film oder Buchdruck haben. Ich denke auch nicht, dass Musik in jüngster Zeit eine Herabwürdigung erfährt. Die Leute schätzen Musik wie eh und je; die können doch gar nicht ohne. Das ist schon seit Jahrtausenden so, und es wäre doch gelacht, wenn es Tom mit seiner Erfindung gelungen wäre, dem ein Ende zu bereiten. Das Problem liegt vielmehr darin, dass die Wahrnehmung von Musik (wie auch von allem anderen) natürlich maßgeblich von dem Medium geprägt, mittels dessen sie stattfindet. So ein Medium ist halt weit mehr als nur ein zunächst leerer und damit immer schon gänzlich unschuldiger Informationsträger. Man schaue sich nur an, was die Schrift gegenüber dem bloß gesprochenen Wort bewirkt... und im Falle von MySpace ist für mich der entscheidende Punkt, dass hier die Verbreitung von Musik beschränkt ist auf vier, fünf Songs à maximal 10 MB. 10 MB, das sind im MP3-Format bei brauchbarer Qualität gerade mal fünf, sechs Minuten, die ich da hochladen kann (nur um sie von MySpace wieder in miese stream-Qualität runterrechnen zu lassen). Und die Leute, die sich die Sachen anhören, wissen um diese Beschränkung – ihre Erwartungshaltung ist komplett auf das Format »song« ausgerichtet, das sie so verinnerlicht haben. Wenn in den ersten 16 Takten nichts großartig passiert, dann zählen sie eins und eins zusammen und denken sich folgerichtig: das wird bestimmt auch nicht mehr besser; schließlich ist ja schon ‘ne halbe Minute rum. Der ideale MySpace-Song fängt also sofort mit einer groovigen hookline an, oder vielleicht gar gleich mit dem Chorus... das wissen natürlich auch die Produzenten und sehen zu, dass ihre Songs die Aufmerksamkeit der Hörerschaft sofort und dauerhaft an sich reißen. Umgekehrt: im MySpace-Diskurs, und das heißt leider eben auch: in den Köpfen der Leute, ist schlicht kein Platz für alles, das nicht nach diesem Schema abläuft – und das stört uns immens.

 

Hinzu kommt noch ein weiterer Faktor, den Du ja auch angesprochen hast – die Sache mit der digitalen Audiokompression: dadurch, dass der Computer nicht größer oder schwerer wird, je mehr Musik ich auf ihm sammle, geht so ein bisschen das Gefühl dafür verloren, was die von uns favorisierte Darreichungsform, das Album nämlich, überhaupt ausmacht: ein großes Ganzes nämlich, das man hören und lesen, anfassen und sogar riechen kann. Wenn die Materialität von Musik nur noch in Nullen und Einsen auf den Magnetscheiben einer Festplatte oder auf den Sandkörnen eines iPods besteht, dann ist das, wie ich finde, zwar noch keine Herabwürdigung von Musik als solcher, aber sicherlich eine des individuellen Produkts. Da gibt es von Mallarmé diesen schönen Satz, dass Literatur nicht mehr sei als das immer wieder neue Zusammensetzen der zwei Dutzend Buchstaben unseres Alphabets. Analog dazu ist jede 74-minütige CD somit nur eine von endlich vielen Möglichkeiten, die 391608000 Samples, die je einen von 65536 Werten annehmen können, zu kombinieren. Die Zahl der möglichen CDs ist also auf 65536 hoch 391608000 beschränkt – von der Beschränktheit des musikalischen Zeichenvorrats, wenn man denn Musik und nicht nur Rauschen machen will, mal ganz zu schweigen. So sehr mir diese Vorstellung gefällt (weil sie das vermeintliche geniale Autorensubjekt so schön links liegen lässt), so problematisch ist sie aus genau demselben Grund – zumindest aus der Produzentenperspektive. Denn: dessen, was Mallarmé da gesagt hat, sind sich die Leute anscheinend durchaus bewusst: ob ich jetzt auf MySpace diese oder die andere Band anklicke, spielt kaum eine Rolle mehr. Band x unterscheidet sich von Band y vielleicht nur in einem kleinen Detail; vielleicht ist sie aber auch völlig anders; oder vielleicht grottenschlecht; dann klicke ich halt die nächste an. Und wenn das Bandprofil mal offline sein sollte, stolper ich bestimmt bald über eins, das mindestens genauso gut ist. Da geht es einem fast wie bei Borges in der »Bibliothek von Babel«... Aber wir wollen gar nicht die großen Kulturpessimisten geben; wir sind nicht der Meinung, dass die Menschheit gänzlich verdorben und Umstrukturierungsmaßnahmen wie Fegefeuer oder ähnliches dringend nötig wären. Ich bin der Überzeugung: das kommt alles wieder – schließlich gab es ja in den 60ern/70ern durchaus einen ziemlichen Alben-Boom. Wir wollen es halt nur etwas beschleunigen. "Precambrian" ist quasi unser Beitrag dazu.

 

Worum dreht sich "Precambrian" textlich?

 

Nun, zumindest dreht es sich nicht um Lava und Fossilien. Die Texte sind, wie auch auf den Vorgängeralben, geprägt von der Auseinandersetzung mit den Unannehmlichkeiten dieser Welt. Das ist insofern ein Problem für manche Leute, als das Konzept des Albums ja erstmal was anderes suggeriert. Das wurde, wenn auch nur von einigen wenigen, durchaus bemängelt. Aber wenn man es mal andersrum denkt: ein ganzes Album mit Liedern über Lava dürfte ziemlich unspannend sein, sowohl für den, der es schreibt, als auch für den, der es hört. Von daher glaube ich auch kaum, dass selbst die Leute, die das Konzept für widersprüchlich halten, so weit gehen und genau diesen Inhalt, wenn man mal genauer nachfragt, auch einfordern würden. Für uns ist es selbstverständlich, dass wir, auch wenn die Mucke teilweise noch so verkopft ist, die Leute vor allem auf einer emotionalen Ebene ansprechen, und mit Liedern über die Geburtswehen unseres Planeten dürfte das kaum machbar sein. Dass die Texte das Konzept nicht konsequent weiterführen, halte ich daher für kein Problem. Außerdem: nirgendwo steht geschrieben, dass das so sein müsse, und vor allem: die Idee mit dem Präkabrium ist doch zu schön, um sie einfach unter den Tisch fallen zu lassen, nur weil man um die Stimmigkeit des ganzen fürchtet.

 

Woher stammt die großartige Spoken-Word-Passage in "Statherian"?

 

Das ist Kevin Spacey, der da spricht, und stammt aus dem Film "The Life of David Gale". Ich selbst finde den Film jetzt nicht so überragend, aber die Passage ist natürlich äußerst treffend, und dass jemand in einem Hollywoodstreifen Lacan verwurstet, hat man ja auch nicht alle Tage. Der Protagonist ist übrigens Philosophieprofessor; insofern ist die Connection zum Ozean auch keine gänzlich zufällige. Denn für Philosophie, wie auch für Paläontologie, haben wir ja bekanntlich eine Menge übrig.

 

Werdet ihr dem Stil von "Proterozoic" treu bleiben oder habt ihr schon eine andere Ausrichtung für die Zukunft vor Augen?

 

Wir behalten uns vor, jedes Album völlig anders werden zu lassen als seinen Vorgänger. Bislang haben wir das ja auch konsequent durchgezogen. Insofern ist also wie immer alles offen. Konkrete Pläne gibt es allerdings noch nicht. Jetzt wird vor allem erstmal getourt...

 

 

Steht eine bersondere Band-Philosophie hinter "The Ocean"? Zumindest ist es ungewöhnlich, wie viel Wert ihr auf Austausch mit anderen Musikern legt, denn auf eurer Bandhomepage ist jeder fähige Mucker eingeladen, euch zu kontaktieren und einen Beitrag zum "The Ocean Collective" beizusteuern.

 

Eine Bandphilosophie, verstanden als fixe Prinzipien, denen alles andere untergeordnet ist, haben wir nicht. Aber es herrscht schon Konsens zum Beispiel dahingehend, dass es ein kreatives Zentrum gibt, Robin nämlich, und dass wir keine Jam-Band sein wollen, sondern ausschließlich Musik spielen, die schon fertig durchkomponiert ist, wenn wir anfangen, sie zu proben. Der Kollektiv-Gedanke bedeutet für uns, dass wir nicht keine fixe, immergleiche Besetzung haben wie die Beatles, sondern ein flexibles Netz aus einer nicht festgelegten Anzahl von Leuten, die sich in dem Maße einbringen können und sollen, wie es zum einen unsere Vorhaben erfordern und zum anderen ihnen möglich und tunlich ist. Die (durchaus angenehme) Folge ist, dass die individuellen Persönlichkeiten dabei ziemlich in den Hintergrund treten; die Beatles sind da echt ein schönes Gegenbeispiel. Wir haben sogar für fast jeden Posten mehr als nur einen, der ihn besetzt. Wenn wir morgen eine Show spielen, dann kann die Besetzung dort eine ganz andere sein als am Tag zuvor. Mittlerweile ist sogar selbst Robin nicht mehr zwangsläufig dabei; wir haben jetzt bis fünf Gitarristen »zur Verfügung«, die teilweise auch Robins Part übernehmen können ...was wir auch schon zwei oder drei mal gemacht haben, ohne dass es der Qualität einen Abbruch getan hätte.

 

Florian Gothe - www.sounds2move.de

 

 

Link: www.theoceancollective.com