Interview mit Hans Rutten von THE GATHERING

 

 

Im Informationsmaterial zu eurem neuen Album "Disclosure" wird selbiges als euer bisher persönlichstes Werk, sowohl in textlicher als auch musikalischer Hinsicht, bezeichnet.  Was hat es damit auf sich? Was macht dieses Album so persönlich?

 

Sowohl wir Instrumentalisten als auch Silje hatten in der Vergangenheit mit gewissen Dämonen zu kämpfen. Da ist Kunst einfach ein schöner Weg, jene Gefühle zum Ausdruck zu bringen, die man früher hatte oder auch gegenwärtig noch hat.

 

So hatte Silje eine ziemlich schwierige Kindheit und musste einige harte Zeiten durchmachen. Wir als Band hingegen hatten in der jüngeren Vergangenheit auch unsere Probleme. Die Trennung von Anneke läutete für uns eine sehr turbulente Zeit ein. Dann wurden wir auch noch von einem Fan verklagt. Es handelte sich dabei um einen Teilnehmer eines Video-Contests im Rahmen unserer DVD "A Noise Severe". Bevor wir sein Filmmaterial auf die DVD brachten, hatten wir ihn natürlich um Erlaubnis gefragt und diese auch per E-Mail erteilt bekommen. Er schrieb uns sinngemäß "klar, ihr könnt mit dem Videoclip machen, was ihr wollt". Nach der Veröffentlichung verklagte er uns dann aber dennoch auf Zahlung von 68.000 Euro. Das Verfahren ist mittlerweile vorbei und im Ergebnis hat keiner gewonnen, denn sowohl wir als auch er haben dabei eine Menge Geld verloren, insbesondere da wir unsere jeweiligen Anwälte zu bezahlen hatten. Zu allem Überfluss spielte sich diese Geschichte gerade um das 20. Bandjubiläum herum ab, das wir uns alle natürlich ganz anders vorgestellt hatten. Ungefähr gleichzeitig wurde dann auch "The West Pole" veröffentlicht und fing sich sogleich viele negative Kritiken ein. Wir alle hatten also diese Gefühle, die wir loswerden wollten, eine Vergangenheit, die es zu verarbeiten galt. Als wir den Track "Heroes for Ghosts" schrieben wurde es uns klar, dass das Album einen gewissermaßen reinigenden Ansatz hatte. "Cleansing" wäre auch ein passender Albumtitel gewesen, aber letztendlich entschieden wir uns doch für "Disclosure".

 

Das Album beschäftigt sich daher vor allem mit der Vergangenheit und wie diese sich immer noch auf die Gegenwart auswirkt. Dem Ganzen versuchten wir einen positiven Drall zu geben, indem wir diese Empfindungen in Kunst zu verwandeln versuchten. Über die inhaltlichen Details der Texte kann ich nur schwer sprechen, da sie fast alle von Silje verfasst wurden. Die genauere Bedeutung sollte aber ohnehin jede Hörerin bzw. jeder Hörer für sich selbst ermitteln. Trotz dieses Ansatzes ist "Disclosure" aber kein Konzeptalbum.

 

Auf "The West Pole" waren noch Marcela Bovio und Anne Van der Hoogen als Leadsängerinnen auf je einem Track zu hören. Auf "Disclosure" hingegen wirkte Silje Wergeland an allen Liedern mit. Ist dies als Statement dahin gehend zu verstehen, dass sich die Band nun selbst sicher ist, in ihr die richtige Sängerin und die würdige Nachfolgerin für Anneke Van Giersbergen gefunden zu haben?

 

Ja, natürlich! Die ursprüngliche Idee bei "The West Pole" war es, mit verschiedenen Sängerinnen und Sängern zu arbeiten. Marcela und Anne hatten schon damit begonnen, an ihren jeweiligen Stücken zu werkeln, als Silje ins Spiel kam, um einige Songs mit uns aufzunehmen. In diesem Moment hat es einfach "geklickt". Wir alle mochten sie und sie war sehr eifrig bei der Sache. Daher hoben wir die Beiträge von Marcela und Anne, in denen schließlich eine Menge Arbeit steckte, auf, vollendeten den Rest des Albums aber mit Silje. Es war uns allen klar, dass wir mit ihr als feste Sängerin weiter machen wollten.

 

Denkst du, dass die Bereitschaft Siljes, die angesprochenen, sehr persönlichen Texte in die Band einzubringen, auch als ein Hinweis darauf gewertet werden kann, dass sie sich in der Band wohl fühlt und keine Angst davor hat, sich den anderen Mitgliedern gegenüber zu öffnen?

 

Ja, sie fühlt sich sehr wohl. Ich bin auch sehr stolz auf sie. Immerhin muss sie die großen Fußspuren Annekes ausfüllen und hat dies auf beeindruckende Weise geschafft. Dazu wären meines Erachtens nicht viele andere Sänger oder Sängerinnen in der Lage gewesen. Ich denke auch, dass wir immer besser in unsere neue Situation, die neue Band, die wir seit dem Wechsel der Sängerin gewissermaßen sind, herein wachsen. Und das trotz der Tatsache, dass man im Internet immer noch eine Menge Scheiß zu dem Thema findet. Meiner Meinung nach haben wir uns gut gehalten. Schließlich haben wir mit Anneke ein Bandmitglied verloren, das von vielen Fans fast wie eine Heilige verehrt wurde. Wir sind jedenfalls sehr glücklich mit dem, was wir erreicht haben.

 

Ist Silje dann jetzt auch für die Gesangsmelodien verantwortlich?

 

Ja, sie schreibt die Gesangslinien. Natürlich diskutieren wir diese innerhalb der Band und reden über den Ausdruck, den das jeweilige Stück haben sollte. Aber letztendlich handelt es sich um Siljes Melodien.

 

Was den Ausdruck betrifft, haben wir diesmal im Übrigen darauf geachtet, dass wir keinen zu märchenhaften Ansatz wählen und uns nicht zu sehr in Metaphorik verstricken. Bei uns treten also keine Drachen auf, die dann die Schwiegermutter symbolisieren oder so. Das halte ich für einen natürlichen Effekt des Alterns: Persönlicher und direkter zu werden, ohne sich hinter Schlössern und Märchen zu verstecken. Über dieses Konzept haben wir auch mit Silje gesprochen und sie war dafür sehr offen.

 

Und wie verhält es sich mit der Musik, die ja mit ihren zahlreichen Klangschichten nicht eben wenig komplex ist? Entstand diese vorrangig im Proberaum oder basiert sie auf den Ausarbeitungen einzelner Bandmitglieder?

 

Das ist unterschiedlich. Am Anfang steht immer eine Idee, die in der Regel von Frank oder von René kommt. Mit dieser spielen wir dann im Proberaum herum, bis sie so weit gediehen ist, dass wir ein Demo aufnehmen können. Dann sehen wir, ob wir etwas ändern müssen, von vorne anfangen oder die Idee vielleicht ganz verwerfen.

 

Im Wesentlichen nimmt also alles im Proberaum seinen Anfang. Ich denke, ein gewisses Jam-Feeling hört man "Disclosure" auch an. Viele Teile des Albums wurden sogar live im Studio eingespielt.

 

Eine erfrischende Neuerung, die mir auffällt, ist der Einsatz der Trompete. Handelt es sich dabei um ein Keyboard-Sample oder um eine echte Einspielung?

 

Das ist eine echte Trompete, gespielt von einem echten Menschen. Ein Freund, der gegenwärtig in Deutschland lebt, sich aber noch ab und an in Nijmegen aufhält, hat sie eingespielt. Der melancholische Ton dieses Parts und das "Armdrücken" zwischen Siljes Gesang und der Trompete gefallen mir auch sehr gut. Wir sind sehr zufrieden mit dem Ergebnis.

 

Verglichen mit den jüngeren Alben der Band scheint es mir, als kombiniere "Disclosure" die Dichte von "Souvenirs" mit der Atmosphäre von "Home". Wie stehst du zu dieser Einschätzung?

 

Nun ja, ich denke, dass die Platte ebenso Einflüsse von "Mandylion" aufweist, nur ohne dessen Metal-Einschlag. Natürlich hat das Album auch viele elektronische Teile, was dann vielleicht an "Home" und ganz besonders "Souvenirs" erinnert. Es findet sich einfach eine Kombination verschiedenster The Gathering-Elemente auf der Platte. Auf jeden Fall unterscheidet sie sich aber deutlich von "The West Pole". Dieses Album stellte noch eine Art von Suche für uns dar. Wir waren sehr unsicher, was geschehen würde. "Disclosure" strahlt da ein ganz anderes Selbstbewusstsein aus. Wir spielen darauf genau die Musik, die wir auch machen wollen. Wir haben unsere eigene Plattenfirma, also zwingt uns niemand zu Kompromissen. Daher konnten wir auch ohne weiteres unsere wiederentdeckte Freude an langen Songs ausleben. Wir hatten Spaß daran, das Album zu erschaffen, und auch das dürfte man der Platte anhören.

  

Die Musik von The Gathering hat sich über die Jahre hinweg immer weiter in eine sehr atmosphärische Richtung entwickelt. Für dich als Schlagzeuger bedeutet dies, dass du dein Spiel stets dem sehr dichten Gesamtklang unterordnen musst, indes aber nicht darauf verzichtest, Details und Variationen einzubringen, die zwangsläufig subtiler sind als jene, mit denen Rockdrummer üblicherweise aufwarten. War es für dich ein schwieriger Schritt, dein Spiel auf diese Gegebenheiten einzustellen?

 

Das passierte eigentlich ganz natürlich, zumal es auch genau das war, was ich machen wollte. Wir richten alle unser Spiel zu Gunsten des Songs aus, ohne groß darüber nachzudenken. Der Song kommt immer vor den Egos und letztlich entscheidet er, was wir zu tun haben. Auf dem neuen Album gibt es aber auch Stücke, die ich mit eher klassischem Rockdrumming bedienen kann. Etwa das Stück "Meltdown" oder den Opener "Paper Waves". Alles in Allem liebe ich es, dynamisch zu spielen und so zum Beispiel neben normalen Stöcken auch häufig auf den Besen zurückgreifen zu können. Ich habe aber auch kein Problem damit, an manchen Stellen einfach gar nicht zu spielen, wenn ein Part keinen Rhythmusgeber erfordert oder von einem elektronisch erzeugten Rhythmus getragen wird.

 

Dazu hat Gavin Harrison meiner Erinnerung nach einmal gesagt, dass ein wirklich guter Drummer auch wissen müsse, wann er am Besten gar nichts spielt.

 

Richtig. Das macht aber nicht nur einen guten Schlagzeuger aus, sondern einen guten Musiker im Allgemeinen.
 

Gibt es denn irgendwelche Schlagzeuger, die dich besonders stark beeinflusst haben?

 

Als Kind fing ich vor Allem wegen Stewart Copeland von The Police mit dem Schlagzeugspielen an. Auch den Stil von Larry Mullen Junior von U2 mochte ich sehr, da er sehr besonnen spielte. Und ich war immer ein Fan von Neil Peart. Er ist sehr virtuos und exakt - was auf mich nicht zutrifft (lacht). Dennoch war er ein großer Einfluss.

 

In The Gathering spielst du seit Gründung der Band mit deinem Bruder René zusammen. Beeinflusst eure verwandtschaftliche Verbindung eigentlich die Meinungsprozesse innerhalb der Band? Beziehungsweise: Geht ihr in Diskussionen etwa über bestimmte Arrangements genauso miteinander um, wie mit den anderen Bandmitgliedern?

 

Natürlich gibt es da Reibereien. Schau dir nur mal die anderen Bands an, in denen Brüder spielen, wie zum Beispiel Sepultura. Wenn man mit seinem Bruder diskutiert, wird es in der Regel lauter, heftiger und inniger als wenn man mit jemand anderem spricht. Man hat einfach das Gefühl, weiter gehen zu können als sonstigen Personen gegenüber. Daher passiert es oft, dass die anderen Bandmitglieder sich heraus halten, wenn René und ich miteinander streiten. Manchmal ergreifen sie aber auch für den einen oder den anderen Partei. Denn natürlich sind wir eine demokratische Band, in der jeder mit seiner Meinung gehört wird.

 

Eine klassische Abschlussfrage: Welche Musik hörst du dir gegenwärtig privat an?

 

Im Moment höre ich mir das neue Dead Can Dance-Album sehr intensiv an. Ich habe es auf Vinyl und freue mich schon darauf, eines ihrer anstehenden Konzerte zu besuchen.

 

Du bist also ein Vinyl-Verfechter?

 

Ich habe vor einer Weile wieder damit angefangen, mir Alben auf Vinyl zuzulegen und habe wirklich große Freude daran, weil es die Erfahrung der Musik so sehr intensiviert. Natürlich klingt es zunächst mal besser. Dann kommt das Artwork hinzu. Es ist einfach eine Art Ritual, eine Platte aufzulegen. Man muss dafür einiges mehr tun, als einfach seinen I-Pod einzuschalten. Ich kaufe mir im Moment nicht mehr so viele Alben, aber wenn ich das tue, ist es immer schön, sie auf Vinyl erwerben zu können. Ursprünglich hatte ich ja auch damit angefangen, Musik in dieser Form zu genießen, ehe die CD dazwischen kam. Trotzdem hob ich aber meine alten Platten auf - mit Ausnahme einiger Rush-Alben, die an meinen Bruder gingen, der sich darüber natürlich sehr freute.

 

Wird demnach auch "Disclosure" auf Vinyl veröffentlicht werden?

 

Ja. Erhältlich wird diese Version beispielsweise über unseren Webshop sein.

 

Florian Gothe – www.sounds2move.de

 

 

Link: www.thegathering.nl