Interview mit STEVEN WILSON

 

 

Bei deinem letzten Soloalbum „The Raven that refused to sing (and other stories)“ ist ein großer Teil der Aufnahmen live im Studio entstanden. Bist du bei der moderner ausgerichteten neuen Platte „Hand.Cannot.Erase.“ nunmehr auch zur „moderneren“ Aufnahmeweise, alle Instrumente einzeln einzuspielen, zurück gewechselt?

 

Nicht ganz. Wir haben wieder versucht, Schlagzeug, Bass, Keyboards und Gitarren zu großen Teilen live mit allen Musikern im selben Raum aufzunehmen. Diesmal gab es allerdings im Vergleich zum letzten Album mehr Post-Production. Wir haben mehr Overdubs benutzt und sind auch öfter auf die ursprünglichen Aufnahmen zurückgekommen, um bestimmte Sachen zu ersetzen. Auch das Line-Up haben wir über das Album hinweg stärker variiert, beispielsweise spiele ich etwa auf der Hälfte des Albums den Bass. Insgesamt hat das Album daher sicher nicht dasselbe Live-Feeling wie „The Raven...“. Aber die entsprechende Philosophie spürt man immer noch. Ich denke auch, dass ich an der Aufnahmeweise, die Basic-Tracks live einzuspielen, festhalten werde, denn sie hat sich aus meiner Sicht wirklich bewährt.

 

Ich erinnere mich, dass du zu im Zuge des letzten Albums die Idee geäußert hast, dich mehr in Richtung eines „musikalischen Regisseurs“ zu entwickeln, der weniger selbst spielt, als vielmehr seine Band durch die von ihm konstruierten Stücke leitet. Für das neue Album hast du aber im Vergleich zur letzten Platte sogar wieder mehr Instrumente eigenhändig aufs Band gebracht. Hast du die Idee vom „musikalischen Regisseur“ ad acta gelegt oder wegen des persönlichen Einschlags des neuen Albums erst einmal nicht weiter verfolgt?

 

Letzteres. Die Idee, als eine Art Regisseur zu fungieren und mich aus dem musikalischen Prozess selbst fast ganz zurückzuziehen, mag ich immer noch. Aber letzten Endes geht es doch um meine Musik. Und auch wenn ich nicht unbedingt der beste Gitarrist, der beste Bassist, der beste Keyboarder oder der beste Sänger bin, hat meine Musik es an sich, dass sie manchmal gerade meine Persönlichkeit benötigt, um richtig zu funktionieren. Es ist schwierig zu erklären, aber es gibt Momente, da fühlt es sich nicht richtig an, wenn ein anderer Musiker – und mag er mir auch technisch weit überlegen sein – bestimmte von mir geschriebene Parts spielt. Auch bei den Aufnahmen zum neuen Album gab es Situationen, in denen ich immer wieder gefragt hatte: „Kannst du das mehr auf meine Weise spielen?“ bis ich dann irgendwann sagte: „Was soll’s, ich mache es selbst!“. Vermutlich liegt es daran, dass mein eigener Stil und meine Persönlichkeit immer Kernbestandteile der von mir geschriebenen Musik sind.

 

Guthrie Govan (Gitarre) und Adam Holzman (Keyboards) können im Rahmen deiner Songs ihre musikalische Persönlichkeit und Kreativität bei ihren jeweiligen Soli einbringen. Gibt es denn auch für deine anderen beiden Bandmusiker Marco Minnemann (Schlagzeug) und Nick Beggs (Bass) die Möglichkeit, eigene Ideen beizusteuern, oder müssen sie sich strikt an die Demos halten?

 

Nick muss sich im Wesentlichen an die Demos halten. Das liegt einfach daran, dass ich heutzutage auch viel auf dem Bass schreibe und dem armen Nick dann auch häufig sagen muss: „Spiele es so, wie ich es auf dem Demo gemacht habe!“. Bei Marco ist das anders. Die Sache bei Schlagzeugern wie Marco, die ich als „Lead-Drummer“ bezeichnen würde, da sie die Musik aus dem Hintergrund lenken, ist die, dass sie ihre eigene Solo-Stimme haben. Marco hat seine eigene Solo-Stimme, wann immer er einen Drumfill spielt. Das ist dann nichts, was ich ihm vorgebe, sondern das ist das, was er als Reaktion auf die Musik selbst kreiert. In all den kleinen Verzierungen, all den rhythmischen Tricks und Illusionen zeigt sich Marcos Persönlichkeit. So wie er hätte kein anderer das Schlagzeug auf dem Album einspielen können. Hätte zum Beispiel Gavin Harrison die Stücke gespielt, würde das Ergebnis ganz anders klingen, da er einen anderen Ansatz hat. Also ja, ich denke, Marco bringt seine musikalische Identität definitiv mit ein. Nick macht das auch, aber für ihn ist das schwieriger. Manchmal ist der Bass eben der Anker, um den herum sich das gesamte Arrangement aufbaut, und muss deshalb simpel gehalten werden.

 

Musst du denn bei Marco bisweilen ähnlich eingreifen wie bei Guthrie Govan, den du gelegentlich bremsen musst, damit er nicht zu sehr ins Technische abdriftet? Schließlich spielen ja beide in ihrer gemeinsamen Band „The Aristocrats“ recht spieltechnikorientierte Musik.

 

Marcos Lieblingsbands sind eigentlich nicht besonders technikorientiert. Er hat da ähnliche Vorlieben wie ich, er liebt beispielsweise XTC und Queen. Er versteht also, dass manchmal auch Einfachheit der richtige Weg ist. Guthrie versteht das selbstverständlich auch. Bei ihm ist es aber so, dass er viele Clinics spielt. Da wird dann erwartet, dass man zeigt, was man kann. Die Kids, die eine Guitar-Clinic besuchen, wollen eben einen Kerl sehen, der tausend Noten in der Sekunde spielt. Marco spielt solche Veranstaltungen nicht, deshalb ist Guthrie auch mehr als er in der Welt der Spieltechnik und des Vorzeigens der eigenen Fähigkeiten zu Hause. Manchmal muss ich ihn also daran erinnern, dass ich von ihm etwas anderes, etwas mit mehr Gefühl will. Dahingehend muss ich bei Marco seltener eingreifen, er weiß sehr gut, was erforderlich ist und was nicht.

  

In unserem letzten Interview zu „The Raven...“ erzähltest du, wie aufreibend es war, das auf diesem Album verwendete, äußerst widerspenstige Mellotron von Robert Fripp einzuspielen. Das neue Album enthält wieder viele Mellotron-Parts. Diesmal hast du ein Gerät mit der Bezeichnung „M4000“ verwendet. War dieses einfacher zu spielen?

 

Ja, das ist ein neues Gerät und es wurde für mich angefertigt. Es kommt von derselben Firma, die immer schon die Mellotrons hergestellt hat, Streetly Electronics. Die gibt es immer noch und sie wachsen derzeit wieder, denn die Leute wollen wieder neue Mellotrons haben. Ich erhielt es im Januar letzten Jahres, nachdem ich ein Jahr lang auf der Warteliste gestanden hatte. Es ist toll. Es ist nach wie vor eine mechanische Sache und benutzt immer noch dieselbe Technologie wie früher, mit Tonbändern und Tonköpfen. Aber viele der Probleme, die die früheren Mellotrons hatten, sind nun behoben. Es unterliegt keinen Leistungsschwankungen mehr und die Mechanik ist nun bedeutend zuverlässiger. Es klingt noch immer nach einem Mellotron und hat noch immer einige der typischen Marotten, ist aber insgesamt sehr viel zuverlässiger. Ich liebe es, denn es ist ein atmendes, lebendes Instrument und damit etwas ganz anders als ein Synthesizer oder ein computerbasiertes virtuelles Instrument.

 

In der Liste der von dir auf dem neuen Album verwendeten Instrumente taucht auch ein „Ghostwriter VI“ auf. Worum handelt es sich dabei?

 

„VI“ steht für „Virtual Instruments“. Ich habe dieses Programm vor einigen Jahren mit einer Firma namens East West in L.A. entwickelt. Im Wesentlichen ist das eine Zusammenstellung der für mich typischen Sounds. Ich habe lange mit East West daran gearbeitet, diese Bibliothek zusammenzustellen. Vorrangig ist das Ganze zugeschnitten auf Leute, die Film- und TV-Soundtracks kreieren wollen. Vor ungefähr einem Jahr ist es erschienen und hat sich auch für mich als nützliches Werkzeug erwiesen. Ich habe es auf mehreren der neuen Tracks verwendet.

 

Das Albumkonzept dreht sich um eine Frau, die sich aus der Gesellschaft immer weiter zurückzieht und die Absicht hat, schließlich ganz zu verschwinden. In der Geschichte verarbeitest du viele persönliche Gedanken, Gefühle und Ansichten. Hast du dabei die Sicht einer Frau gewählt, um diesen Charakter damit eindeutig von deiner eigenen Person abzugrenzen und durch diesen Perspektivwechsel letztlich ehrlicher in Bezug auf deine Emotionen sein zu können?

 

Zunächst war der Grund dafür, eine Frau als Hauptcharakter zu wählen, der, dass die Person, die das Konzept inspiriert hat, auch eine Frau war. Das war eine tatsächlich existierende Person namens Joyce Carol Vincent. Meine Hauptfigur ist nicht Joyce Carol Vincent, wurde aber durch deren Geschichte inspiriert. Es gefiel mir aber auch, dass es eine Herausforderung darstellte, aus dieser Perspektive zu schreiben. Ich mag Herausforderungen und hasse den Gedanken, mich selbst zu wiederholen. Wenn es etwas gibt, durch das ich ein neues Projekt auf markante Weise von allen meinen bisherigen Projekten abgrenzen kann, dann nehme ich das begeistert an. Aber es ist ein interessanter Umstand, den du da aufgreifst. Die Wahl einer Frau als Hauptcharakter hat es ironischerweise vielleicht tatsächlich einfacher für mich gemacht, in Bezug auf meine Gefühle und meine Persönlichkeit direkter zu sein. Ich konnte sie durch jemanden kanalisieren, der oberflächlich betrachtet sehr weit von meiner eigenen Person entfernt ist. Und es steckt sehr viel Persönliches in diesem Charakter, das direkt aus meinem Leben kommt. Ich weiß nicht, ob ich bei der Wahl eines männlichen Charakters ebenso ehrlich gewesen wäre.


Ähnlich wie du selbst durch das Kreieren von Musik bedient sich auch die Protagonistin des Albumkonzepts einer künstlerischen Ausdrucksform für ihre Emotionen – sie zeichnet. Anders als du stellt sie aber ihr Talent nie in den Mittelpunkt ihres Lebens und macht nie eine Karriere daraus. Stattdessen ist sie in einem alltäglichen Job tätig, der sie offenbar nicht erfüllt und den sie im späteren Verlauf der Geschichte auch zu Gunsten der Isolation aufgibt. Glaubst du, du hättest womöglich mit ähnlichen Problemen zu kämpfen gehabt wie sie, wenn du nicht irgendwann die Entscheidung getroffen hättest, eine musikalische Karriere zu verfolgen?

 

Selbstverständlich. Ich denke, fast jeder kann sich ein Stück weit in diesem Charakter wiederfinden. Das macht es ja zu einem so schönen Konzept, und deshalb hat es vermutlich auch so viele Leute berührt. Denn jeder kann in seinem eigenen Leben das Potential für solche Situationen wahrnehmen: Einen allmählichen Rückzug von der Welt, eine allmähliche Isolation von anderen menschlichen Wesen. Das muss nicht immer mit Einsamkeit zu tun haben. Meine Protagonistin wählt die Isolation, weil sie auf diese Weise glücklicher ist. Sie schaut aus dem Fenster und sieht Verwirrung und Angst, gesellschaftliche Unbeholfenheit und das Chaos des modernen Lebens. Sie sagt daher zu sich selbst: „Ich bin glücklicher in meiner eigenen kleinen Welt, meinem eigenen kleinen Kokon.“ Ich kann mich damit durchaus identifizieren. Es gibt Tage, da ist mir ganz und gar nicht danach, vor die Tür zu gehen. Und ich denke, diesen Impuls hat jeder dann und wann.

 

Ist die Tatsache, dass die Protagonistin immer wieder betont, dass sie die Isolation selbst gewählt hat, auch ein wenig darauf zurückzuführen, dass sie sich selbst eine mögliche weitere Motivation für dieses Verhalten – die Angst, sich anderen zu öffnen – nicht eingestehen möchte?
 

Es ist kompliziert. Ich will mir nicht anmaßen, alles über diesen Charakter zu wissen. Sie ist eine vielschichtige Person und hat als solche sozusagen ein Eigenleben entwickelt. Es gibt da sicher ein Element der Angst vor sozialer Unbeholfenheit und vor dem Kontakt mit anderen menschlichen Wesen. Aber dazu treten eben auch Dinge wie etwa die Angst vor der modernen Welt. Jedes Mal, wenn sie die Nachrichten einschaltet, sieht sie Terrorismus, Pädophile, Krieg, fallende Bomben... es gibt wirklich genügend Gründe dafür zu sagen: „Ich will nicht dort raus gehen.“ Aber vor allem denke ich eben, dass den meisten Leuten das Gefühl bekannt vorkommen wird, dass man sich manchmal am glücklichsten fühlt, wenn man mit sich allein ist. Ich denke, menschliche Wesen benötigen etwas von beidem: Wir brauchen Zeit für uns selbst ebenso wie wir die Kommunikation mit anderen Menschen brauchen. Man muss da die richtige Balance finden. Diese junge Frau ist nicht unglücklich darüber, dass sie allein ist. Man kann aber sagen, dass die Balance aus ihrem Leben verschwunden ist und dass sie die Verbindung zum Rest der Menschheit verloren hat. Das ist auf lange Sicht gesehen natürlich keine gute Sache.

 

In der späteren Phase ihrer Isolation beginnt die Protagonistin, von „Besuchern“ zu berichten, von denen sie glaubt wiederholt aufgesucht zu werden. Repräsentieren diese „Besucher“ die Angst davor, wieder in die Gesellschaft, aus der sie sich eigentlich ganz entfernen möchte, „zurückgeschleppt“ zu werden? Oder sind es doch eher Traumbilder, mit denen der letzte Rest des menschlichen Bedürfnisses nach Kontakt mit anderen Menschen gegen ihre Entscheidung für die Isolation rebelliert?

 

Ich habe zwar meine eigene Vorstellung davon, wer diese Besucher sind, aber die werde ich nicht verraten. Du bist davon ausgegangen, dass sie sich die Besucher nur einbildet, aber das steht nicht fest. Sie könnten real oder imaginär sein. Es könnte sich um Träume handeln, sie könnten aber beispielsweise auch aus einer anderen Dimension oder von einem anderen Planeten kommen. Ich denke, dahingehend hat jeder seine eigenen Vorstellungen. Der Punkt ist, dass diese Frau mit niemand anderem kommuniziert. Wir müssen uns also auf ihren internen Dialog verlassen. Und ihrem internen Dialog können wir nicht trauen, denn sie ist sich möglicherweise selbst nicht darüber im Klaren, was Wahrheit und was Fantasie ist. Deshalb muss man sich seine eigenen Gedanken machen: Was ist Lüge, was ist Wahrheit? Was ist Fiktion, was ist Fakt? Ich mag diese Mehrdeutigkeit. Offensichtlich wird der Blog der Frau mit fortschreitender Zeit immer surrealer. Aber wer sagt, dass er nicht der Wahrheit entspricht?

 

Interessant ist auch, welches Alter du deiner Protagonistin gegeben hast. Die Geschichte spielt in der Gegenwart und die Dame ist ungefähr Mitte 30. Das heißt, dass sie einer Generation entstammt, die in den sehr jungen Jahren noch nicht mit Internet, Mobiltelefonen etc. aufgewachsen ist, aber beim Boom der neuen Technik noch jung genug war, um voll und ganz Teil der neuen Kommunikations- und Medienlandschaft zu werden – nur eben mit leisen Erinnerungen daran, dass es auch einmal anders war. Siehst du diese Generation besonders stark mit Problemen der Entfremdung konfrontiert?

 

Ja, ich denke, diese Generation ist etwas verloren und verwirrt. Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Technologie sich rasend schnell weiterentwickelt hat. Experten werden mir da womöglich widersprechen, aber ich denke, dass sich die Technologie in diesem kurzen Zeitraum schneller weiterentwickelt hat, als jemals zuvor. Denn jetzt hast du diese Dinger (zeigt sein Smartphone – Anm. d. Verf.) und das Internet. Und diese beiden Dinge zusammen haben meiner Meinung nach eine solch gewaltige gesellschaftliche Revolution zur Folge gehabt, dass wir immer noch nicht sagen können, wie ihre langfristigen Auswirkungen aussehen werden. Was sind zum Beispiel die langfristigen Auswirkungen auf die Kinder, die in die neue Generation hineingeboren werden, in Bezug auf ihre Fähigkeit zu kommunizieren? Wir sitzen hier jetzt einander gegenüber und sprechen von Angesicht zu Angesicht. Und man sagt, dass dabei etwa 80 Prozent der Kommunikation über Körpersprache abläuft. Aber wir haben jetzt eine ganze Generation von Kindern, die im Glauben aufwachsen, dass Kommunikation etwas ist, das nur über Facebook, SMS etc. stattfindet. Vielleicht werden sie nie die Fähigkeit dazu entwickeln, einem anderen in die Augen zu schauen und direkt zu kommunizieren. Das besorgt mich.

Aber die Generation, die du erwähnt hast... nun ja, ich selbst bin ein klein wenig älter, ich bin jetzt in meinen 40ern. Aber auch ich fühle diese unglaubliche Periode der Neuausrichtung. Und auch ich fühle mich manchmal überwältigt von der modernen Welt und davon, wie viel sich verändert hat, seit ich ein Kind war. Es gibt außergewöhnlich große Änderungen dahingehend, was Kinder erwarten, wie die Leute kommunizieren, woher wir unser Wissen beziehen, wie wir Nachrichten, Filme, Musik oder Pornographie rezipieren... woran auch immer man denken kann, fast überall wirkt sich diese Revolution aus. Auf gewisse Weise ist meine Protagonistin also repräsentativ für eine verlorene Generation, eine Generation, die ihre Schwierigkeiten damit hat, sich mit diesen Umwälzungen zu arrangieren.

 

Wäre es für deine Protagonistin dann womöglich sogar besser gewesen, wenn sie als Teil derjenigen jungen Generation, die du dereinst auch auf dem Porcupine Tree-Album „Fear of a blank Planet“ beschrieben hast, zur Welt gekommen wäre? Immerhin wählt sie ohnehin die Isolation und als Teil einer Generation, die von vornherein in einem Klima der menschlichen Entfremdung heranwächst, müsste sie gar nicht erst gegen die Erwartung, ein soziales Wesen sein zu müssen, ankämpfen.

 

Ich denke, das ist wahr. Es ist schwieriger für Leute, die nicht in eine Generation hineingeboren wurden, in der diese Technologie von Anfang an existierte. Ich bin auch eine dieser Personen. Weißt du, es ist ja fast schon ein Klischee, zu sagen, dass Kinder immer mehr von Computern verstehen, als ihre Eltern. Aber sie passen sich neuen Technologien immer an als wäre das nichts, als würden sie sie schon immer kennen. Es ist also schwieriger, wenn man bereits fünfzehn oder gar zwanzig Jahre alt ist und dann plötzlich mit dieser modernen Utopie – oder Dystopie – konfrontiert wird. Du fühlst dann immer noch einen gewissen Druck, wie ein normaler Mensch zu leben und mit anderen menschlichen Wesen zu interagieren, aber man sagt dir: „Auf diese Weise läuft das heutzutage nicht mehr“. Aus musikalischer Sicht erinnere ich mich noch an die Vinyl-Ära, durchquerte dann die CD-Ära und nun muss ich mich damit abfinden, dass viele Leute meine Musik streamen. Anscheinend hat das Streaming auch schon wieder das Downloaden verdrängt. Überlege dir also mal, welche erheblichen Änderungen schon so ein Mikrokosmos wie Musik bzw. die Art, wie wir Musik aufnehmen, allein in meiner Lebenszeit durchgemacht hat. Und ich bin ja noch nicht alt! Das ist es eine Sache, mit der sich zu arrangieren außerordentlich schwierig ist.

 

Florian Gothe - www.sounds2move.de

 

 

Link: www.stevenwilsonhq.com 

 

Fotos: Lasse Hoile