Interview mit LIV KRISTINE

 

 

 

Liv, dein neues Album "Vervain" ist ziemlich düster und hart ausgefallen. Außerdem hört man allenthalben es wäre so nah an deiner Theatre of Tragedy-Vergangenheit wie nichts anderes seit deinem Abschied damals. Man möchte fast von einem Bruder im Geiste einer Platte wie etwa "Aégis" sprechen. Die ist allerdings schon über 15 Jahr alt. Hast du eine Erklärung dafür, warum es sich für dich ausgerechnet jetzt richtig angefühlt hat gewissermaßen an die alten Zeiten anzuknüpfen?

 

Du hast vollkommen recht - es hat sich jetzt genau richtig angefühlt, und es war meine Intention, an die Zeiten um "Aégis" anzuknüpfen. "Vervain" ist ein back-to-the-roots Album und ist stark inspiriert von meiner Vorliebe für Doom Metal, insbesondere Black Sabbath, sprich die Musik, mit der ich durch den musikalischen Einfluss meiner Eltern aufgewachsen bin. Ich war zudem damals noch ganz jung und durfte eine Menge Erfahrungen sammeln. Das alles, das Gespür für die Musik und die Atmosphäre, wie ich meine Stimme, Einflüsse und Know-how im Studio oder auf der Bühne umsetzen konnte und umgesetzt habe, das hat mich sehr geprägt. Als Künstlerin, als Mensch und als kritische Beobachterin. 

 

Witzigerweise hast du damals deine Solokarriere gestartet, um dich neben Theatre of Tragedy auch mal in einer anderen Richtung zu versuchen, nun dieses Soloalbum, das sich gewissermaßen an ToT anlehnt, während es die eigentliche Band gar nicht mehr gibt. Schon eine interessante Wendung, oder? Das ist dann wohl der ewige Kreislauf...

 

Absolut. Ich finde es unheimlich schade, dass es Theatre of Tragedy gar nicht mehr gibt. Es ist ein paar Jahre her seit sie sich aufgelöst haben. Ich nehme an, dass diejenigen, die dieses Schiff haben sinken lassen, indem sie sich in 2003 den kuriosesten Plan ausgedacht haben "jetzt geht's ordentlich ab, schmeiß doch die Liv raus" auf einem ganz komischen Höhentrip waren. Ich hatte das Gefühl, dass der eine oder andere eher persönlichen Interessen folgen wollte. Egoismus und Neid war ein großes Problem in der Band. Ich möchte aber, dass diese Musik, dieser Spirit weiterlebt. Sechs Freunde haben damals Anfang/Mitte der 90er im kalten, dunklen Norwegen eine super Idee gehabt: Das "Beauty and the Beast Konzept". Raymond und ich haben Shakespeare, Poe und Co. im Anglistikstudium studiert, geliebt und unsere Freizeit mit Musik und Schreiben verbracht. 

Ich spiele aber unheimlich gerne Theatre of Tragedy Lieder, wie z.B. "Tanz der Schatten", "A Distance there is", "Venus", "Siren". Ein paar dieser Perlen gibt es immer auf meiner Solo Setlist. Mein Publikum freut sich darüber, sogar tierisch! 
 

In meinem Review habe ich "Vervain" als ein Herbst/Winter-Album beschrieben und seinen Vorgänger "Libertine" in diesem Zusammenhang als "Sommeralbum" in Relation gestellt. Für mich passen auch die jeweiligen Artworks zu dieser Umschreibung. Kannst du aus deiner Sicht mit dieser Einordnung etwas anfangen oder siehst du die Scheiben in einem gänzlich anderen Licht?

 

Das hast du wirklich schön beschrieben. Genau so war meine Intention. "Vervain" wurde ja im Oktober veröffentlicht - das passt von der Stimmung her genau richtig. Die Songs haben viel Tiefgang und enthüllen große Emotionen. Insbesondere die Duette sind für mich unheimlich ausdrucksstark und geprägt von dieser schweren, gotischen Atmosphäre. Wir hatten wirklich tolle Gäste hier zu Besuch im Mastersound Studio: Doro Pesch für die Ballade und Metal Hymne "Stronghold of Angels", und Michelle Darkness von End of Green für den Gothic-Rocker "Love Decay". Es war mir eine Ehre, Michelle und Doro einladen zu dürfen, und es hat einen riesigen Spaß gemacht. Tausend tolle, krasse Geschichten und viele Tassen Kaffee!  

 

"Vervain", das möchte ich aber gerne betonen, ist eine Reise durch Licht UND Dunkelheit. Der rote Faden zieht sich durch alle Texte - es geht um Unscheinbares und Überdimensionales, um Kontraste und Gegensätze, im Mensch und in der Natur, wie auch das Coverartwork vom großartigen Künstler Stefan Heilemann darstellt. Alles hat zwei Seiten, jeder Mensch hat mindestens zwei Gesichter. Es geht auch um das menschliche Sein und Befinden im universellen Licht versus Dunkelheit; ein Thema, womit jeder Mensch mindestens einmal im Leben konfrontiert wird. Es geht um Übermenschliches, um den Instinkt in Mensch und Tier, um das Überschreiten von Grenzen und um Erwartungen. Oft nehmen meine Texte eine unerwartete Wendung zum Thema oder Ausgangspunkt, um auf einen philosophischen oder gegensätzlichen Weg abzubiegen. Das Unerwartete, das Gegensätzliche, Dunkelheit und Licht, Instinkt und Gesetz haben mich schon immer fasziniert. In meiner Kunst kann und darf ich beides sein, Poet und Philosoph. Diese Freiheit finde ich großartig. Dazu kommt noch ein Hauch spirituelle Wahrnehmung, denn auch ich wachse und entwickle mich auf Basis meiner Erfahrungen in der Kunst und im normalen Alltag. Und das zu jeder Jahreszeit, hehe.

 

 

Es drängt sich natürlich auch die Frage auf: Wohin ist die unbeschwerte Leichtigkeit von Songs wie "Paris, Paris" und "Vanilla Skin Delight" verschwunden, haha. Sollte "Vervain" bewusst ein so düsteres Album werden, vielleicht auch als Reaktion auf den Vorgänger?

 

Vor etwa anderthalb Jahren habe ich Tosso (Gitarrist Thorsten Bauer - MR) und Alex von meiner Idee und Vision für mein 5. Soloalbum erzählt. Kurz darauf hat Tosso mir ein paar musikalische Ideen gezeigt. Ich war sofort hin und weg! Ich wusste, dass es sich gleich richtig und gut anfühlt. Ich habe mir aber vorher keinen großen Kopf über ein musikalisches Konzept gemacht - ich habe das getan, was ich gefühlt und gespürt habe. Ich versuche immer meinem Herz und Bauchgefühl zu folgen, sprich, gar nicht auf irgendwelche Trends oder Strömungen drauf zu springen. Das brauche ich nicht und meine Fans, die mir seit über 20 Jahren folgen, auch nicht. Erfahrung ist, wie schon oben bereits erwähnt, alles für mich. 

 

Glaubst du, dass du dich als Solokünstlerin durch dieses Album erst einmal vom Pop verabschiedet hast oder du dich zumindest mal davon weg bewegst? Oder kann die nächste Platte schon wieder in eine komplett andere Richtung gehen als "Vervain"?

 

Meine Freunde meinen wohl, ich sei irgendwie "kreativ hyperaktiv". Die Kunst und die Musik geben mir so viel Inspiration. Ich freue mich über jedes Konzert und jedes Album. Ich möchte mich frei bewegen und wie gesagt meinem künstlerischen Herz folgen. Allerdings, um ehrlich zu sein, wenn ich jetzt meinem Bauchgefühl folgen würde, würde ich dem Weg, den ich mit "Vervain" eingeschlagen habe, gerne weiter folgen. Ich habe mit der Produktion einige neue Facetten in mir als Sängerin entdeckt. Es ist unheimlich erfrischend, neue musikalische Fähigkeiten auszuprobieren, zu perfektionieren und meine Stimme anders einzusetzen. Eigentlich singe ich ja mein ganzes Leben lang, und ich hatte immer das Gefühl, dass die Musik mein Weg ist, obwohl ich das Singen nie gelernt oder studiert habe. Ich durfte mich immer in meinem eigenen Tempo entwickeln, und meine Vision, mein Traum ist wahr geworden. Ich habe die beiden Dinge in meinem Leben erreicht, von denen ich schon ganz früh geträumt habe: meine eigene Familie zu haben und Sängerin bzw. Künstlerin zu sein. Ich will ja immer Vollgas geben und jeden Moment mit meinen Fans bewusst wahrnehmen. DAS macht mich reich, das gibt mir unheimlich viel Lebensfreude! Ich habe noch ganz viel vor.

  

Es wäre wohl durchaus möglich und vorstellbar gewesen, dass man die eine oder andere Songidee auf "Vervain" auch bei Leaves' Eyes hätte unterbringen können. Was hat dich letztlich dazu bewogen, eine Nummer wie "Stronghold of Angels" unter dem Liv Kristine-Banner zu veröffentlichen und ihn nicht etwa für das nächste Album deiner Hauptband aufzuheben?

 

Davon war ehrlich gesagt nie die Rede, vor allem arbeiten Tosso, Alex und ich immer an einem Album bis es komplett ist bevor wir mit der nächsten Produktion anfangen. Als das Lied fertig produziert war dachte ich, ich brauche unbedingt eine Duettpartnerin - und zwar Doro und niemand anderen! Wir fragten sie ob sie Lust hätte mitzumachen und schickten ihr den Song. Einige Tage später war Doro bei uns, trotz bevorstehender USA Tour. Ich hatte während der Aufnahmen nur noch Gänsehaut. Doro ist eine fantastische Sängerin und dazu noch ein unglaublich liebevoller, wunderbarer Mensch. Wir haben uns die halbe Nacht lang unglaubliche Geschichten erzählt und unheimlich viel gelacht. Am nächsten Morgen hätten wir ihren Zug deshalb fast verpasst. Ich bin mit "ich-sage-lieber-nicht-mit-wieviel-km/h" um die Kurven durch den Wald gefahren damit sie gerade noch in den Zug springen konnte. "Stronghold of Angels" ist eine Metal Hymne, und ich finde sie passt perfekt zum Konzept von "Vervain". 
 

Apropos Leaves' Eyes: Auch für die neue Platte hast du dich wieder von deinem langjährigen Freund und Leaves' Eyes-Wegbegleiter Tosso in Sachen Songwriting unterstützen lassen, und selbstverständlich hat er auch gemeinsam mit deinem Göttergatten Alex die Produktion übernommen. Ist es wichtig für dich trotz etwaiger künstlerischer Ausflüge in unterschiedliche Gefilde dennoch solche Konstanten zu haben, um optimal zu arbeiten? Und könntest du dir vorstellen auch mal ein Soloalbum mit einem anderen Produzenten aufzunehmen - obwohl er natürlich die naheliegendste Option ist und sich durch euer eigenes Studio natürlich auch der eine oder andere Euro sparen lässt.

 

Ich brauche diese Konstante, und ich brauche mein Team. Alex, die "Nachteule", hat zudem im Mastersound Studio einige neue technische Features in die Produktion eingebracht. Tosso, der die meisten Songs geschrieben hat, ist einfach ein super Komponist. Es ist immer eine Freude, in diesem Team zu arbeiten. Das beste ist, dass das Mastersound Studio ganz in der Nähe von unserem Häuschen ist. Ich brauche also definitiv kein anderes Studio. Ein Liv Kristine-Soloalbum entsteht zuerst als Vision und Idee in meinem Kopf. Mein Team, meine Freunde, meine Familie, unterstützen mich hundertprozentig auf meinem künstlerischen Weg. Die Erfahrungen davor musste ich zwar selber machen, aber für die Zukunftsmusik brauche ich vor allem Alex und Tosso hier im Mastersound Studio als Songwriting- und Produktionsteam. Und auch als treibende Kraft und kritische Stimmen natürlich. Wir haben jedenfalls noch sehr viel vor, das verspreche ich euch.

 

Markus Rutten - www.sounds2move.de

 

 

Link: www.livkristine.de