Interview mit Floor Jansen von AFTER FOREVER @ Wacken Open Air 2004

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Markus: Der Publikumszuspruch war heute ja sicher wesentlich größer als ihr es euch vorgestellt hatte, oder?

Floor: Ja, wir konnten es uns kaum vorstellen, wir waren noch nicht oft in Deutschland und wir sind heute das erste Mal auf dem WACKEN OPEN AIR. Es sind so viele Bands hier und man weiß vorher nie genau, wie es wird. Die Leute waren beim Intro schon gut drauf und haben uns sofort angenommen, das war großartig. Die ganze Stunde, die wir gespielt haben war toll. Die Fans haben uns sehr unterstützt.

M.: Hättest du gedacht, dass das Publikum auch die „DECIPHER“-Songs kennen würde?

Floor: Nun, ich habe von vielen Leuten gehört, dass unsere ersten beiden Platten „PRISON OF DESIRE“ und „DECIPHER“ hier nur schwer zu bekommen sind. Aber die richtig positiven Reaktionen bekamen wir erst nach unserem letzten Album „INVISIBLE CIRCLES“. Da haben wir uns von den älteren Songs nicht all zu viel erhofft. Aber wir wussten schon, dass es Leute gibt, die auch unsere alten Songs kennen. Es ist schwierig die Platten zu bekommen, aber die Leute haben sie sich trotzdem besorgt. So kann man natürlich nie ein größeres Publikum erreichen, aber es ist Sache unserer Plattenfirma dies zu ändern.

M.: Wir haben auch schon versucht die „EXODIUM“-EP und die alten Singles zu bekommen. Aber das ist wirklich nicht leicht. Vielleicht über Amazon oder über Importhändler, aber dann musst du auch min. 3 Wochen warten. Und es ist sehr aufwändig.

Floor: Ich weiß, das Problem ist einfach, dass Deutschland so groß ist und du einfach jemanden brauchst, der dafür sorgt, dass deinen Platten flächendenkend zu kriegen sind. Es ist nicht einfach sich hier so etwas aufzubauen, aber ich denke wir gehen einen gut Weg. Es wird mit der Zeit immer besser und mit einer neuen Plattenfirma wird sich auch der Vertrieb weiter verbessern.

M.: Ihr wollte also das Label wechseln?

Floor: Ja, vielleicht. Wir haben noch Vertrag für eine weitere Platte und dann werden wir uns neu entscheiden. Sie (Transmission, Anm. d. Red.) haben wirklich einen großartigen Job gemacht und uns geholfen zu wachsen. Wie es danach weiter geht werden wir sehen. Wir wollen versuchen neue Märkte zu schließen, mal sehen ob mit dem alten oder einem neuen Label.

M.: Ihr wollt euch also auf jeden Fall weiter vergrößern?

Floor: Ja, es eine unserer Visionen weiter zu wachsen. Denn das ist eine gute Sache, und je mehr Leute du mit deiner Musik erreichst umso besser ist das für einen Künstler.

M.: Es ist ja auch nur legitim, wenn du als Band nicht auf der Stelle treten willst, sondern dich immer weiterentwickeln willst.

Floor: Normalerweise schon, aber ich kenne auch Bands die das nicht wollen und die alles beim alten lassen wollen. Aber zu diesen Bands gehören wir nicht.

M.: Ja, einige Bands spielen lieber Underground-Shows mit vielleicht 200 Zuschauern. Die sagen sich dann ‚ich spiel lieber vor 100 Leuten, denen meine Musik etwas bedeutet und die so fühlen wie ich als vor 5.000 Zuschauern bei denen 95% rum stehen und sich langweilen’.

Floor: Sicher, das gibt es auch.

M.: Du warst ja damals gerade mal 16 Jahre alt als du der Band beigetreten bist. War es schwierig für dich als Frontfrau deinen Mann zu sehen, denn als Frau hat man es nicht immer leicht, denn die meisten Metalbands sind reinen Männerbands.

Floor: Eigentlich nicht. Du musst bedenken, dass wir damals sehr sehr klein angefangen haben. Niemand kannte uns zu diesem Zeitpunkt, nicht mal die Leute aus unserer Nachbarschaft. Ich kam in diesen Raum, wo ein paar andere junge Leute gemeinsam Musik machten und das war genau die Musik, die ich auch mochte – Metal. Und ich wusste schon immer, dass ich gern in einer Metalband singen würde. Also warum nicht eine Frau in einer „Jungsband“? Ich hatte keine große Erfahrung und ich hielt mich auch als Mädel nie für etwas besonderes, ich fühlte mich eher wie einer von den Jungs – und so ist das heute immer noch . Diese ganze Sache mit Frauen im Metal ist ja mittlerweile recht etabliert und es gibt auch keinen Geschlechterkampf mehr. Die Leute respektieren mich und das ist das wichtigste.

M.: Bands wie GATHERING, WITHIN TEMPTATION oder NIGHTWISH haben ja auch gezeigt, dass es problemlos funktionieren kann.

Floor: Genau so ist es. Manchmal hängt es auch ein bisschen von der Musikrichtung ab, denn ich denke derbe Black-Metal Bands wollen keine Frau wie mich am Gesang.

M.: Sicher, aber wenn du dir ARCH ENEMY anschaust... die haben auch eine Frontfrau.

Floor: Oh ja! Da hast du recht, sie ist sehr sehr tough. Ich liebe das und es ist wirklich cool. Wir beide kennen uns auch und verstehen uns gut.

M.: Wenn du nur die Musik hörst und dabei die Band nicht siehst könntest du meinen es handelt sich um einen Typen. Diese tiefen Growls und der gesamte Gesang, sie hat eine sehr außergewöhnliche Stimme.

Floor: Da hast du absolut recht. Aber sie ist definitiv eine Frau, das kann man deutlich sehen (lacht).

M.: Du hast ja an der niederländischen Rockacademy studiert. Dadurch ist deine Stimme jetzt vielseitig einsetzbar. Du kannst Metal, Oper, Musical und noch einige andere Stilrichtungen singen. Kannst du dir vorstellen einmal in einer anderen Musikrichtung oder einer anderen Band zu singen? Vielleicht ein Musical?

Floor: Da muss ich dich ein wenig korrigieren. Ich hab zwar eine Menge auf der Rockacademy gelernt, aber für den Bereich ‚Oper’ und ‚Musical’ hab ich mich anderweitig fortgebildet. Ich hab zwar eine Menge an der Rockacademy gelernt, aber nach 3 Jahren hab ich gemerkt, dass dich dort nichts mehr lernen kann und habe mich dann anderweitig umgesehen. Aber du liegst schon richtig, ich habe was für Musicals übrig. Ich werde auch weiterhin studieren, dann aber speziell in Richtung Theater. Ich träume eigentlich davon irgendwann mal Musical zu singen, aber das lässt sich auf keinen Fall mit After Forever kombinieren. Vielleicht ist es einen Option für die Zeit nach After Forever, ich werde auf jeden Fall die Augen offen halten.

M.: Du gibst ja auch seit kurzem Gesangsstunden.

Floor: Ja, ich habe diesen Sommer damit angefangen. Ich habe eine Menge Schüler und es macht wirklich Spaß. Wir werden sehen wie es nächstes Jahr weiter geht wenn ich wieder studiere. Mal sehen was wird wenn ich mit After Forever und meinem Studium wieder mehr um die Ohren habe. Ich werde auf jeden Fall versuchen weiterhin Gesangsstunden zu geben.

M.: Wie habt ihr eigentlich das Songwriting verändert nachdem Mark die Band verlassen hatte?

Floor: Nun, wir schreiben unsere Songs schon immer als Band. Er hatte zwar einen großen Anteil an unseren Songs, aber jeder von uns bringt seine Ideen ein.

M.: Also war es gar keine so große Änderung für euch?

Floor: Naja, so kann man es auch nicht sagen. Er hatte sicher einen Einfluss auf unsere Songs. Aber bei uns schreibt jeder seine eigenen Parts, egal ob Gitarre, Keyboard oder die anderen. Und die Texte sind sowieso immer von mir, da lasse ich mir auch nicht reinreden (grinst).

M.: Ich welcher Hinsicht hat sich der Charakter der Songs im Unterschied zwischen den frühen Werken wie „DECEIPHER“ oder „EXORDIUM“ und dem letzten Album „INVISIBLE CIRCLES“ verändert?

Floor: Nun, die Songs wurden sicher strukturierter und auch schwieriger und komplexer. Der Sound ist auch theatralischer geworden. Viele Leute denken beim ersten Durchhören ab und zu an ein Musical, auch weil es ein Konzeptalbum ist. Das Material ist auch heavyer und rauer geworden.

M.: Ich würde sagen auch progressiver.

Floor: Ja, richtig. Das ist auch ein wenig in die Songs eingeflossen und wurde zuletzt immer präsenter.

M.: Warum habt ihr eigentlich dieses Thema der ‚schlimmen Kindheit mit Ärger und Aggression im Elternhaus’, diesen Teufelskreis als Thema für euer Album ausgewählt?

Floor: Als wir anfingen uns für das Album zusammen zu setzten wussten wir, dass wir ein Konzeptalbum machen wollen. Es sollte ein Thema sein dass uns allen am Herzen liegt und das ist bei 6 Leuten nicht immer einfach. Außerdem brandmarkt dich eine solche Sache in gewisser Hinsicht auch, speziell bei einem Thema wie diesem. Sander, unser Gitarrist arbeitet als Lehrer an einer Schule, in der einige Schüler in genau der selben Situation sind wie das kleine Mädchen in unseren Songs. Er hat damals viel von diesen Kindern erzählt und diese ganze Sache ist auch überall so präsent! Es betrifft nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern, die versuchen ihren Job und ihr Familienleben unter einen Hut zu kriegen und die es einfach nicht auf die Reihe kriegen weil sie es nie gelernt haben. Dieses Thema hat so viele Aspekte. Viele Leute verfallen dem Alkohol, werden Drogenabhängig oder begehen Selbstmord weil sie mit der Situation und dem Druck einfach nicht mehr zurecht kommen. Die Eltern geben ihnen keine Sicherheit mehr, führen sich nicht – ich glaube das alles ist die Basis dieser Idee.

M.: Als Lehrer ist Sander ja dann täglich mit solchen Themen in Kontakt.

Floor: Genau, nur nicht jeden Tag und auch nicht so extrem, denn wenn du ein Konzeptalbum schreibst kommen alle Extremen mit rein und ich hoffe dass niemandem soviel Unheil wiederfährt.

M.: Du hast ja alles Lyriks für dieses Album geschrieben. Sind die Tagebuchtexte, welche die Geschichte ergänzen und die im Booklet zu finden sind auch von dir?

Floor: Ja.

M.: Hat das nicht eine Menge Zeit gekostet?

Floor: Nun, ich musste mich in das Mädchen hinein versetzen. Ihre Gefühlt mussten auch meine Gefühle werden. Außerdem soll das Tagebuch die Geschichte ergänzen, denn ich wollte nicht die ganze Handlung nur die Liedtexte packen. Ich wollte das beide Komponenten auch für sich stehen können. Zudem hat das Mädchen ja recht wenig Emotionen in den Lyriks, da diese mehr die Situation an sich beschreiben.

M.: Die Hörer sollen die Geschichte ja sicher auch selbst erkunden. Ansonsten hättest du auch ein kurzes Buch schreiben können.

Floor: Ja, exakt. Normalerweise schreiben wir erst die Musik und dann bringe ich mein Texte mit ein. Aber dieses mal hatten wir ständig dieses Konzept im Kopf und so haben wir uns entschieden die Geschichte in 11 Stück aufzuteilen und dann zu sagen „in diesem Song passiert dies“ „wir benutzen diese und jene Emotion...“. Und natürlich muss auch die Musik bei einem solchen Album immer auch zur Handlung passen.

M.: Glaubst du dass die Hörer die Geschichte durch die teils recht offenen Formulierungen auch sehr individuell wahrnehmen?

Floor: Das denke ich schon. Deshalb heißt das Album ja auch „Unsichtbarer Kreis“, denn man kann ihn eigentlich nicht sehen. Man muss selber herausfinden was dieser „INVISIBLE CIRCLE“ ist um hinter die Geschichte zu kommen. Wir wollen nicht auf Pathos machen und den Leuten vorschreiben wie sie ihr Leben zu leben haben. Aber wir hoffen, dass wir mit diesem Album wenigstens ein kleines bisschen helfen können. Wir wollen die Leute damit ein wenig aufrütteln und sagen „Hey, ist das nicht ein bisschen wie dein Leben?“ oder „kommt dir das nicht irgendwie bekannt vor?“. Wir bekamen auch viele gute Reaktionen von betroffenen  Personen, aber es ist nicht unsere Aufgabe als „Sozialarbeiter“ tätig zu werden.

M.: Wie geht’s in Sachen Tour und Festival jetzt bei euch weiter?

Floor: Wir werden als nächstes wieder hier in Deutschland auf dem Taubertal-Festival spielen, anschließend in Spanien, als Vorband von EUROPE – damit wird übriges für viele der Jungs ein Traum wahr - und auch noch in den Niederlanden auf dem „Summer Darkness“, einem Gothic Festival. Es werden auch noch ein paar andere Festivals kommen, aber nicht mehr in Deutschland. Vielleicht wird es noch eine Clubshow geben. Aber es gibt noch keine konkrete Planung für Deutschland. Wir werden aber auf jeden Fall zurückkommen.

M.: Wollt ihr nachdem dieser ganze Stress vorbei ist erst mal eine größere Pause machen oder wollt ihr sofort weiter Songs schreiben?

Floor: Wir haben mit dem Songwriting schon vor ein paar Wochen begonnen. Es geht sehr schnell voran. Wir wollen im Moment einfach neue Songs schreiben, denn wir lieben unsere Musik. Die meisten von uns haben im Moment Urlaub, wir haben nicht so viele Auftritte und für mich ist Musik sowieso mein Full-Time-Job, aber nicht alle haben dieses Glück. Wir sind eine sehr aktive Band und es geht momentan verdammt schnell.

M.: Glaubst du es wird noch lange dauern bis ihr ein neues Album veröffentlichen werdet? Es klingt ja so als ob schon sehr weit seit mit dem neuen Material.

Floor: Nein, das glaube ich nicht. Wir hoffen, dass es im September 2005 soweit sein wird. Wir sind eine Band von 6 Personen und wir können nicht alle von der Musik leben. Alle haben nebenbei noch mit ihrer Arbeit, einem Studium o.ä. zu tun. Somit können wir nicht immer Songs schreiben – touren – Songs schreiben – touren und so weiter. Wir könnten sicher noch etwas schneller sein, aber es ist einfach momentan nicht möglich. Außerdem wollen wir den Markt auch nicht mit minderwertigen Veröffentlichungen überfluten. Aber weil das Songwriting so schnell vorangeht wollen wir auch so schnell wie möglich aufnehmen.

M.: Ist schon abzusehen ob es wieder ein Konzeptalbum wird oder eher etwas vollkommen anderes?

Floor: Es wird sicher komplett anders werden.

Interview: Markus Rutten. Ausarbeitung und Übersetzung: Simone Steinbüchel & Markus Rutten - sounds2move.de