Interview mir Charlotte Wessels von DELAIN

 

 

Anfang August 2007, es ist noch Vormittag und trotzdem ruft eine gut gelaunte und redefreudige Charlotte Wessels aus der Rheinmetropole Köln im „Büro“ von sounds2move an. „Ich bin ausgeschlafen, habe schon gefrühstückt und du bist mein erster Gesprächspartner für heute – das sind doch gute Voraussetzung für uns beide, oder?“, lacht die blutjunge Niederländerin gleich zu beginn sympathisch in den Hörer.

 

Und gut lachen hat die 20-jährige definitiv, denn nach dem Erfolg des Debüts „Lucidity“ ihrer Band Delain in den Beneluxländern, wird der Longplayer demnächst auch in jedem gut sortierten deutschen Plattenladen zu finden sein. Womit wir auch schon beim Thema wären, denn ursprünglich waren Delain überhaupt nicht als „richtige“ Band, sondern als Projekt von Keyboarder Martijn Westerholt (Ex-Within Temptation) geplant, für den die Sängerin zuerst das einzige konstante Mitglied an seiner Seite sein sollte. Doch noch vor der Veröffentlichung des Longlayers in der Heimat warfen die beiden ihren ursprünglichen Plan über den Haufen. Charlotte klärt auf: „Als Martijn Delain gründete, ging es ihm gesundheitlich nicht sehr gut, weshalb er auch zuvor bei der Band seines Bruders (Within Temptation, Anm. d. Aut.) ausgestiegen war. Zum damaligen Zeitpunkt wollte er einfach keine fest Band um sich herum haben, sondern einfach für sich komponieren und dann versuchen die entsprechenden Musiker ins Boot zu holen“. Auch live sollten die Stücke ursprünglich nicht aufgeführt werden, doch dann überkam der Tatendrang die Truppe: „Mit der Zeit ging es Martijn dann wesentlich besser und während der Arbeiten an den Songs setzt man sich natürlich zwangsläufig sehr intensiv mit der Musik auseinander. Als das Album dann fertig war und wir voll in der Materie waren dachten wir uns ‚Verdammt! Und diese Songs sollen wir jetzt nur zu Hause hören? Wir müssen das unbedingt auch live umsetzen’...“, erinnert sich die Abiturientin lachend.

 

 

Vom Projekt zum All-Star-Album

 

Beleuchtet man den Denkansatz des Projekts etwas näher, dann erklärt sich natürlich auch die Vielzahl an Gastmusikern (vorzugsweise am Gesang), die ihren Weg auf „Lucidity“ gefunden haben. Dennoch ist die Liste der vertretenen Namen durchaus beachtlich, konnte der Bandkopf doch aufgrund seiner vorherigen Kontakte aus den Vollen schöpfen. „Dass Sharon (den Adel, Anm. d. Aut.) auf dem Album ist, überrascht natürlich niemanden, schließlich haben die beiden jahrelang zusammen Musik gemacht. Von seiner damaligen Zeit bei Within Temptation kannte er natürlich noch einige andere Musikerinnen und Musiker, die er dann gefragt hat, ob sie zu einem Gastspiel bei Delain bereit wären. Und wir hatten Glück, denn Absagen gab es überraschenderweise keine“, freut sich Fräulein Wesseln. In Namen bedeute das neben Sharon den Adel konkret Liv Kristine (Gesang, Leaves’ Eyes), Marco Hietala (Gesang und Bass, Nightwish), Arien van Weesenbeek (Drums, God Dethroned), Ad Sluijter (Gitarre, Epica) oder etwa George Oosterhoek (Ex-Orphanage). Hieran hat natürlich vor allem die Vergangenheit des Bandchefs einen großen Anteil, der trotz des gegenwärtigen Debüts mit Delain kein unbeschriebenes Blatt ist. Doch darum macht man bei den Holländern auch keinen Hehl: „All diese großartigen Künstler hätten wir als vollkommen unbekannte Band sicher nicht für uns gewinnen können. Hier haben wir ganz klar von Martijns Tour- und Festivalbekanntschaften profitieren können“, verweist die Sängerin, die auch leidenschaftlich gern malt und zeichnet, auf das viel zitierte Vitamin B.

 

Ehrengäste und Abgänge

 

Die zukünftigen Delain Album wird die Truppe dann aber weitestgehend selbstständig und ohne ein großes Aufgebot an Gästen umsetzen. Die nötigen talentierten Mitstreiter dafür hat man mittlerweile schließlich gefunden. Dennoch: „Das Element der Gäste werden wir vermutlich beibehalten, aber deutlich abgeschwächt. Ich vermute mal, dass es auf 1-2 Beiträge beschränkt werden wird“. Auf die Frage wen genau sich die Braunhaarige für einen solchen Auftritt denn wünschen würde, zeigt Frau sich unentschlossen: „Da gibt es sicher haufenweise sehr gute und talentierte Leute, mit denen es einen wahnsinnigen Spaß machen würde. Aber ich weiß nicht, ob ich dazu schon etwas konkretes sagen kann. Immerhin haben wir bisher noch nicht viel neues Material geschrieben. Einer von vielen Namen, die mir da einfallen, wäre Corey Taylor – das wäre sensationell“, wird dann doch noch ein Name in die Runde geworfen. Im Gegenzug wird ein anderer Name auf den kommenden Alben der Band nicht mehr auftauchen, und zwar der des Gitarristen Ray van Lente, der die Band vor wenigen Wochen aus persönlichen Gründen verlassen hatte. Im Rahmen der Bekanntgabe dieser Dezimierung ihrer Teamstärke teilten die verbliebenen Mitglieder auch sogleich mit, dass der Platz an der 2. Gitarre nicht neu besetzt werden soll. Doch warum? Gute Gitarristen gibt es eigentlich zu Genüge. „Wenn man in einer Band spielt, dann ist man einfach ein Team. Und wenn jemand aus diesem Team dann nicht mehr dabei sein kann oder will, dann kann man meiner Meinung nach nicht einfach jemand anderen dazu holen, der Ray ersetzt. Denn für mich – und da bin ich mit den anderen einer Meinung – wird niemand Ray ersetzen können. Somit ziehen wir es vor, ganz auf diese Position zu verzichten. Das sollte sich auch live recht gut machen lassen, wenn wir ein wenig den Mix verändern“, zeigt sich Charlotte gewillt, das aktuelle Bandgefüge nicht weiter zu verändern.

 

Jäger und Sammler

 

Wer sich Gäste aus dem In- und Ausland auf die Platte holt, der sieht sich natürlich auch mit gewissen Problemen konfrontiert. So kann man organisatorisch schnell an seine Grenzen gelangen – abgesehen davon, dass man natürlich nicht jeden Gast für seine Aufnahmen einfliegen lassen kann. Doch dessen war sich auch Martijn Westerholt bewusst, dem von vornherein klar war, dass der Knochen nicht zum Hund kommt. Und dennoch war der Blondschopf bei allen Aufnahmen vor Ort. Oder sagen wir besser bei fast allen: „Einzig bei den Aufnahmen von Sharon war er nicht dabei“, lässt Charlotte wissen. „Er sagte nur ‚Was immer sie aufnehmen wird, ich werde es lieben’. Und so kam es dann auch. Sie schickte uns ihre Parts zu und die waren fantastisch. Das unterstreicht noch einmal wie gut die beiden sich kennen“. Die Sängerin selbst konnte nicht bei allen Aufnahmeprozessen mit Anwesenheit glänzen, da sie sich zur gleichen Zeit mit ihren Schulprüfungen auseinandersetzten musste. Dafür richtete sich der Bandkopf und Keyboarder stets nach seinen Gästen, die er – etwa im Fall von Liv Kristine, die im familieneigenen Stuttgarter Mastersound Studio ihre Vocals einsang – unter anderem in Deutschland besuchte.

 

Steile Karriere

Mit ihren gerade einmal 20 Jahren kann die Niederländerin Charlotte Wessels schon beachtliche Referenzen aufweisen. Schließlich hat sie innerhalb ihrer noch jungen Karriere bereits Duette mit Marco Hietala (The Gathering und No Compliance) und Liv Kristine („See me in Shadow“) zu verbuchen, abgesehen von den anderen illustren Gästen auf dem Album. Da kann man schon mal ein bisschen stolz auf das Erreichte sein. „Das bin ich auch“, lacht Charlotte. „Eigentlich ging alles zuerst nur in kleinen Schritten voran, aber wenn ich jetzt zurück blicke, dann wird mir klar, dass alles irgendwie doch rasend schnell an mir vorüber gezogen ist. Anfangs wurde ich nur gefragt, ob ich die Texte für die anderen schreiben möchte, was mich schon überwältigt hat, handelt es sich dabei doch keinesfalls um Unbekannte. Und am Ende habe ich es dann sogar mit ihnen zusammen gesungen – darauf bin ich natürlich schon stolz“, resümiert die angehende Studentin für Kunstgeschichte mit einem schüchternen kichern. Allerdings trägt die sympathische Radiohead-Fanin auch eine gewisse Bürde mit sich herum, denn bei den Liveauftritten müssen Delain natürlich auf die Parts ihrer Gäste verzichten, wenn man nicht massiv mit Samples arbeiten möchte. Hier ist es an Charlotte auch die Parts einiger ihrer Vorbilder zu übernehmen. Dafür braucht man ein gewisses Selbstbewusstsein, dass sich Charlotte mittlerweile angeeignet hat: „Die meisten der Gesangslinien stammen ohnehin von mir, von daher ist es nicht so, dass ich sie nicht selbst singen könnte. Ich genieße es eigentlich inzwischen diese Parts wieder selbst zu singen, auch wenn wir einige Leute bei den Konzerten damit sichtlich überraschen – etwa wenn sie eigentlich Marcos Gesang erwartet haben. Auf die Grunts verzichte ich allerdings“, lautet der schelmische Einstand in eine ausführlichere Standpunktdefinition. Dabei bleiben natürlich auch Vergleiche von außerhalb nicht aus, doch Charlotte erweist sich als nüchterne Beobachterin: „Ich bin realistisch genug um zu sehen, dass ich nicht so gut wie etwa Sharon sein muss. Sie ist eine großartige Sängerin und ich habe höchsten Respekt vor ihr. Daher verletzt es mich nicht, wenn jemand sagt, dass sie besser ist als ich. Man muss auch sehen, dass die anderen wesentlich mehr Erfahrung haben und ich immer noch nicht ausgelernt habe – aber ich denke auch, dass ich sehr schnell lerne und ständig Fortschritte mache. Wenn Leute mich dann mit Liv oder Sharon vergleichen möchten, dann sollen sie es tun“. Vergleiche gehen generell auch mit einem gewissen Druck für den vermeidlich Unterlegenen einher, doch diesen Druck kann man auch als Herausforderung sehen – wie Charlotte es tut: „Natürlich möchte man immer besser sein oder es wenigstens anderen gleich tun. Jeder will sich verbessern, das ist ganz normal. Und so lang man diesen Anreiz hat, kann man seine Fähigkeiten auch weiter ausbauen. Ich denke es würde etwas falsch laufen, wenn so etwas unberührt an mir vorbei ziehen würde“.

 

Raus aus dem Studio, rauf auf die Bühne

 

Dafür, dass man zuerst überhaupt nicht live spielen wollte, ging das im Endeffekt dann doch rasend schnell. Schon kurz nach der Veröffentlichung von „Lucidity“ hatte man eine schlagkräftige und bis heute (mit Ausnahme von Ray, siehe oben) in gleicher Form aktive Truppe beisammen, die sich nach einigen Proben sogleich auf die erste eigene Headlinertour durch die holländischen und belgischen Clubs begab. Eine überhastete Entscheidung? Das glaubt Charlotte nicht: „Große Zweifel hatte ich eigentlich nicht. Denn unser allererstes Konzert war gleich ausverkauft und somit ein guter Startschuss“, erinnert sich die Frontfrau lächelnd. Rückblickend ist die Band laut Aussage ihres Aushängeschilds sehr zufrieden mit der ersten Tour, während derer man sich im intimeren Rahmen bewähren konnte und die auch zeigte, dass einige Leute an der Musik der Band interessiert sind. „Ich glaube es war gut, erst einmal seine eigenen Shows zu spielen und zu schauen wie die Leute reagieren. Auf jeden Fall sinnvoller als bei den Festivals anzufangen. Denn dort bist du wahrscheinlich irgendwo zwischen großen Namen platziert und die Gefahr ist groß, dass du ein bisschen untergehst. Obwohl es natürlich auch eine interessante Erfahrung ist sozusagen den Löwen zum Fraß vorgeworfen zu werden und sich dann zu bewähren“, erzählt Charlotte einmal mehr mit einem Lachen. Trotzdem gibt die Sängerin auch offen zu, dass die Band in ihrer Performance wie jede Band von ganz unten anfangen musste. So wirkte etwa der Auftritt beim letztjährigen Metal Female Voices Fest in Belgien noch sehr hölzern und schüchtern, wohingegen man Ende April diesen Jahres beim Straßburger Festival des Artefact eine deutliche Steigerung und eine merklich gewonnene Sicherheit diagnostizieren konnte. Die gepiercte Sängerin stimmt zu: „Da liegst du mit deinen Beobachtungen definitiv richtig. Besonders ich war zu Anfang wirklich sehr, sehr schüchtern. Versteh mich nicht falsch, ich liebe es auf der Bühne zu stehen – es fühlt sich nur irgendwie nicht natürlich für mich an“, gesteht die Sängerin, die sich laut eigener Aussage eher für unfotogen hält und nicht wirklich gern Fotos von sich selbst betrachtet. „Aber Roland (Landa, Gitarrist der Band, Anm. d. Aut.) ist da ganz anders. Er ist die reinste Rampensau! Für ihn ist das alles kein Problem, es scheint ihm das natürlichste auf der Welt zu sein. Er geht auf die Bühne, schaut allen direkt in die Augen und legt los. Bei den ersten Shows hatte ich wirklich Probleme damit hoch zu gehen und den Menschen gelassen gegenüber zu treten. Teilweise hatte ich richtig Bammel und habe mit zitternden Händen hinter der Bühne gestanden. Doch dann hatten wir die Clubtour gespielt und einige voll gepackte Wochenenden mit bis zu 4 Shows hinter uns und mit der Zeit gewöhnte ich mich langsam an die Situation und bekam dadurch auch mehr Freiheiten und Sicherheit mich zu entfalten. Ich meine wer kann schon unbeschwert performen, wenn er die Hosen gestrichen voll hat?“, kichert das Mädel aus Zwolle.

 

Markus Rutten – www.sounds2move.de

 

 

 

Die 3 Lieblingssängerinnen von Charlotte Wessels

sounds2move bat Charlotte ihre drei persönlichen Lieblingskolleginnen am Gesang zu küren. Wen die Niederländerin gewählt hat und warum findet ihr hier.

 

Anneke van Giesbergen / The Gathering:
Sie ist der Wahnsinn, sie kann einfach alles singen. Sie wirkt immer so entspannt und singt auch die schwierigsten Passagen absolut gelassen. Ich habe sie gesehen während sie schwanger war und ihr Bauch 2 Meter hervorzustehen schien. Damals trug sie so ein knappes Kleidchen, dass ihre ganze Erscheinung einfach noch massiver und offensichtlicher schwanger machte, haha. Selbst unter normalen Umständen würde fast niemand so einen kurzen Rock auf der Bühne tragen und sie macht es noch während sie schwanger ist! Damit hat sie wirklich Eier bewiesen, wenn ich das so sagen darf, haha.

 

Sharon den Adel / Within Temptation:
Sie hat einfach diesen natürlichen Charme und ich bin ein großer Fan von ihr.

 

Amanda Palmer / Dresen Dolls:
Amanda ist völlig verrückt und ich liebe ihre Texte. Wenn man von ihren behaarten Beinen absieht, dann liebe ich eigentlich alles an ihr.

 

 

 

Link: www.delain.nl