Interview mit Mikael Stanne von DARK TRANQUILLITY

 

 

Nach der Veröffentlichung von „Fiction“ war zu lesen, dass du dir vorstellen könntest, für das nächste Album mal wieder noch etwas stärker auf Klargesang zu setzen, während euer Gitarrist Niclas (Sundin) am liebsten härter und extremer geworden wäre. Wie seid ihr für „We are the Void“ aus dieser Pattsituation heraus gekommen?

 

Das muss sich nicht unbedingt auf „Fiction“ oder das neue Album beziehen, sondern wir haben generell unterschiedliche Vorlieben und Geschmäcker innerhalb der Band. Womöglich wurde das Zitat irgendwie aus dem Zusammenhang gerissen. Jeder möchte hin und wieder etwas stärker in eine bestimmte Richtung gehen, daher ist das wie ein niemals endender Prozess, der für uns als Band vollkommen normal ist. In gewisser Weise reagieren wir da auch aufeinander: Wenn zum Beispiel der eine mit einer für uns ungewöhnlich extremen, harten Idee kommt, dann kann es passieren dass jemand anders kurz darauf mit einem überaus melodischen Songfragment auf sich aufmerksam macht. Man könnte es wie Tauziehen beschreiben, was aber eine gute Sache ist, denn irgendwann trifft man sich in der Mitte und im Optimalfall entsteht dabei etwas, das weitaus besser ist als die beiden Ursprungsideen. Mal will Niclas dies, Martin (Henriksson, Bassist - MR) wiederum das und ich vielleicht etwas komplett anderes. Ich bin aber immer gern bereit ins jeweilige Extrem zu gehen, so lange der Song danach verlangt und es dem Stück gut tut.

 

Und was hat „We are the Void“ verlangt?

 

Als wir mit dem Songwriting begonnen haben, war einer unserer Anhaltspunkte, so offen und scheuklappenlos wie möglich an die Sache heran zu gehen. Anstatt vielleicht zu sagen „Nein, das passt nicht zu Dark Tranquillity – das ist nichts für uns“, wollten wir es einfach mal auf uns zukommen lassen und sehen, wie sich gewisse Dinge vielleicht mit der Zeit entwickeln. Bei diesem Album gab es einige Ideen, die zu Beginn fast niemand mochte, aber wir haben dann einfach daran gearbeitet und Veränderungen vorgenommen und irgendwann haben wir geliebt was daraus wurde. Ich denke aus diesem Experimentieren und Entwickeln heraus ist die Vielseitigkeit unseren neuen Albums entstanden.

 

Hast du ein konkretes Beispiel parat für eine seltsame Idee, aus der dann ein Song oder ein Teil eines solchen auf eurem neuen Longplayer geworden ist?

 

Das ist rückblickend im Detail schwierig zu sagen. Es gab einige verschrobene Melodien oder sehr seltsame Riffs von denen wir überhaupt nicht wussten wie wir diese in einem DT-Song unterbringen sollten; das erschien uns teilweise regelrecht unmöglich. Dann wurden Akkorde hinzugefügt oder andere Melodien eingewoben und auf einmal klang es total nach uns. Das war sicherlich sehr unkonventionell, aber das ist auch das großartige daran, Musik zu komponieren – es ist total interessant zu sehen, wie aus wenig bis nichts mit der Zeit etwas tolles wird, worauf wir alle sehr stolz sein können.

 

Mir kommt es so vor als wäre die neue Scheibe etwas komplexer und progressiver als „Fiction“. Könnte man vielleicht sagen es steht musikalisch irgendwo in der Mitte zwischen „Fiction“ und „Character“?

 

Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, da ich mich grundsätzlich schwer tue unsere Alben auf diese Art und Weise zu betrachten. Außerdem hört man in dieser Hinsicht verschiedenste Eindrücke, kürzlich hat zum Beispiel jemand von einem perfekten Mix aus „Gallery“ und „Projector“ gesprochen. Wieder ein anderer sah es als natürlichen Fortschritt von „Character“ – so können die Meinungen auseinander gehen, haha.

 

Dann reden wir stattdessen über den Song „Her Silent Language“, der unbestritten in die Richtung von „Misery’s Crown“ geht, einem der absoluten Hits eures letzten Albums.

 

Da hast du recht, er hat eine ähnliche Dramaturgie und Struktur und das Feeling ist ebenfalls vergleichbar. Als Niclas eine Strophe und den Chorus präsentierte, war mir augenblicklich klar, dass ich hier etwas anders machen muss. Ich hatte da bereits diese Melodie im Ohr aber Niclas meinte nur „Nein, das soll höllisch schnell und aggressiv werden, da passt so eine Melodie nicht!“. Ich habe dann jedoch „meine“ Version als Demo aufgenommen und dann verstand er auch was ich mir vorstellte und war schnell überzeugt. Danach haben wir noch ein bisschen dran gearbeitet, auch weil die Ursprungsversion etwas zu vorhersehbar und simpel war, aber inzwischen lieben wir den Song und haben ihn auch schon mehrfach geprobt, da wir ihn unbedingt live spielen wollen.

 

„Misery’s Crown“ wurde ja ziemlich schnell ein Liebling eurer Fans und hat auch live exzellent funktioniert. Da ist es im Grunde nur natürlich, wenn ihr jetzt mit dieser Nummer nachlegt.

 

Ja warum nicht? Ich mag diese eher direkten, emotionalen Songs mit guten Melodien, denn sie sind ein guter Kontrast zu den komplexeren Stücken, die bei uns ja sehr präsent sind. Ein bisschen Abwechslung hat noch niemandem geschadet.

 

Ein anderer neuer Song ist „Arkhangelsk“, handelt es sich dabei um ein schwedisches Wort? Es scheint nämlich sehr nah am englischen „Archangel“ also dem Erzengel zu liegen.

 

Nein, es ist zwar dem Schwedischen sehr nah, aber es ist dennoch ein russisches Wort. Es ist der Name einer Stadt irgendwo im tiefsten Norden des Landes. Wenn es Winter wird, ist dieser Ort regelrecht tot und total von der Außenwelt abgeschnitten, denn er liegt relativ dicht an der Arktis. Alles was man dort oben braucht oder kaufen kann, muss mit Schiffen dort hin verfrachtet werden. Es war zu beobachten, dass während dieser Monate die Selbstmordrate unglaublich in die Höhe geschnellt ist. Der Text stammt von Niclas und es geht grob gesagt darum wie man seinen absolut niedrigsten Punkt erreicht und jegliche Individualität komplett abschaltest und gerade noch die nötigsten Prozesse zulässt, um am Leben zu bleiben. Die Inspiration zu diesem Song ist also die absolut tiefe Depression, der Menschen vorzugsweise während der Wintermonate verfallen können.

 

Dann habt ihr jetzt also auch einen russischen Songtitel, aber nach 20 Jahren im Geschäft immer noch keinen in eurer Muttersprache.

 

Haha, das stimmt! Es ist wie gesagt nah dran, aber es zählt nicht.

 

Gibt es einen speziellen Grund dafür, dass ihr noch keinen schwedischen Titel hattet?

 

Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, haha. Vermutlich würde es auch überhaupt keinen Sinn machen, außer wenn ich auch in Schwedisch singen würde. Wir sind zwar eine Band aus Göteborg, aber in Gedanken sehen wir uns als internationale Band und da versteht es sich von selbst, mit englischen Texten zu arbeiten. Wir haben schon über etwas Derartiges gesprochen, aber wirklich in Frage kam es noch nie.

 

Dreht man das Cover von „We are the Void“ auf den Kopf, dann sieht man dass der untere Torso der Figur in Wirklichkeit ein kirchen- oder kathedralenähnliches Gebäude ist. Bezieht sich die Leere, die sich im Albumtitel manifestiert also auch auf das Thema Religion oder die Kirche als Institution?

 

Auf diesen Gedanken könnte man durchaus kommen und es würde passen, aber das war nicht der ursprüngliche Gedanke. Für mich persönlich bedeutet der Titel, dass wir alle diese innere Leere mit uns herum tragen und versuchen sie jeder auf seine Weise mit etwas zu füllen, das uns etwas bedeutet. Es geht um Leute, die diese Leere als die Realität akzeptieren, die sie nun mal ist, anstatt sich an ein Glaubenssystem zu klammern, dass sie vor der Wahrheit beschützt. Man könnte vom spirituellen Standpunkt aus auch sagen, dass man sich für dieses Nichts in seinem Inneren nicht zu schämen braucht, da es eine natürliche Sache ist.  Es ist etwas, das jeder mit sich herum trägt und für das sich die meisten vermutlich schämen, obwohl sie es nicht sollten.

 

Man könnte also auch sagen, dass viele Individuen diese innere Leere mit Glauben und Religion zu füllen versuchen. Möglicherweise auch als eine Art  Abwehrsystem...

 

Na klar, sicher. Wenn ich mich als Beispiel nehme, dann ist es in meinem Leben die Band, die den Großteil dieses Platzes einnimmt. Ohne die Band würde ich mich auch unglaublich leer fühlen. Dark Tranquillity sind mein Abwehrsystem gegen das, was an negativen Dingen in unserer Zeit auf einen einprasselt. Ich kann mich jederzeit mit meinen alten Freunden unten in unserem Proberaum verstecken, Musik machen und alles andere für diese Zeit einfach mal vergessen. Jeder braucht einen Rückzugsort und Sicherheit, etwas das die Sorgen des Alltags nicht erreichen können und ich habe das für mich schon früh in Form meiner Band gefunden.

 

Im Dezember seit ihr im Rahmen der „Darkness over X-Mas Tour“ für einige Tage durch Deutschland und die umliegenden Länder getourt. Ehrlich gesagt war ich ein wenig überrascht, dass ihr nicht nur vor euren Labelmates Heaven Shall Burn, sondern auch noch vor Caliban auf die Bühne musstet. Immerhin seit ihr eine alt gediente und einflussreiche Band. War diese Tour für euch eher eine Möglichkeit, um ein paar neue Leute zu erreichen und schon mal ein bisschen die Werbetrommel für das neue Album zu rühren?

 

Ja, ganz genau so sieht die Sache aus. Unsere Fans sind ja weniger aus der Metalcore-Ecke, aber wir finden es gut gewisse Grenzen etwas zu weiten und auch mal mit einer vielleicht nicht zu 100% passenden Band zu touren, denn dabei kann man immer ein paar neue Leute auf sich aufmerksam machen. Es hat auch von den Terminen her einfach gut gepasst und wir konnten zudem bereits neues Material in der Live-Situation ausprobieren. Die Tour lief wirklich fantastisch und jetzt sind wir auch gut vorbereitet für die anstehenden Tourneen mit der neuen Scheibe.

 

Wann dürfen wir uns in Europa auf eine Headlinertour freuen?

 

Nach jetzigem Stand im September. Bis Ende Mai werden wir in Nordamerika sein, danach kommt die Festivalsaison und im Anschluss soll es eine große Europatour geben. Wir sind schon mit ein paar sehr coolen Bands im Gespräch und es wird sicher ein Killer-Line-up werden (jüngst wurde besagte Tour bestätigt, bei der auch Insomnium am Start sind - MR).

 

Hauptsache ihr erspart uns eines dieser mittlerweile unglaublich im Trend liegenden Tourpakete mit fünf und mehr Bands, hehe.

 

Nein, nein. Da geht es mir genauso und das ist auch für die Leute blöd, da es viel Zeit kostet. Drei Bands sind denke ich eine optimale Lösung. Wir planen etwas wirklich cooles, das wir hoffentlich bald offiziell ankündigen können.

 

Für den Jubiläumssampler eurer Plattenfirma Century Media habt ihr euch an „Broken“ von Sentenced heran gewagt, einer Band mit der ihr bereits mehrfach auf Tour wart. Gab es einen bestimmten Grund dafür, gerade diesen Song auszuwählen?

 

Sentenced waren immer eine unserer absoluten Lieblingsbands. Als wir damals unseren ersten Plattenvertrag bei Spinefarm unterschrieben haben, da hatten diese gerade „North from here“ raus gebracht und das war einer der Gründe für uns zum gleichen Label zu gehen.

Jedenfalls als wir hörten, dass wir eine andere Band aus dem Raster von Century Media covern sollten, stellte sich die Frage nach dem „wen?“ gar nicht erst. Es war schon eine Herausforderung „Broken“ zu einem Dark Tranquillity-Song zu machen und ihm unseren Stempel aufzudrücken, ohne diese großartige Nummer zu verunstalten, hehe.

 

Als Fan und Kollege von Sentenced muss dich die Meldung von Miikas (Tenkula, Gitarrist und Hauptsongwriter bei Sentenced - MR) Tod Anfang 2009 hart getroffen haben oder?

 

(sucht ein paar Sekunden nach den richtigen Worten) Ich war sehr traurig und niedergeschlagen, aber irgendwie auch nicht so überrascht wie vermutlich die meisten anderen Leute, denn ich wusste, dass es ihm schon seit einiger Zeit schlecht ging. Natürlich hat man gehofft, dass es mit ihm wieder bergauf geht und er irgendwie wieder auf die Füße kommt. Miika war unbestritten ein musikalisches Genie. Trotz einer gewissen Vorahnung war die Meldung dann letztlich doch ein harter Schlag, selbst wenn klar war, dass er so seine Probleme hatte.

 

Lass uns das Interview mit einem etwas positiveren Thema beschließen und noch kurz zu einem völlig anderen Thema wechseln. Du bist als großer Filmliebhaber bekannt: Welche Streifen, die du jüngst gesehen hast, würdest du unseren Lesern spontan empfehlen?

 

Das ist wirklich ein schöneres Gesprächsthema, haha. Ich mag eher ernste Filme, aber auch Science-Fiction, asiatische Horrorstreifen und andere Nischenfilme – auch Filme über Superhelden können sehr cool sein. Eben hauptsächlich Sachen, die etwas abseits der gängigen Norm sind. Die Director’s Cut BluRay von „Watchmen“ war zum Beispiel fantastisch, den habe ich mir schon mehrfach angesehen. Morgen startet in Schweden „The Road“ mit Viggo Mortensen und ich sterbe fast vor Spannung den Film endlich zu sehen. Er basiert auf einem meiner absoluten Lieblingsbücher, das ich schon fünf- oder sechsmal gelesen habe und das mich immer wieder tief berührt. Ein bisschen Angst habe ich natürlich auch, ob der Film dem Buch überhaupt das Wasser reichen kann, aber wenn sie diese hoffnungslose Endzeitstimmung entsprechend umsetzten können, dann stehen die Chancen nicht schlecht, hehe. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich „Avatar“ immer noch nicht gesehen habe, obwohl er mich sehr reizt. Das Skript dazu habe ich bereits vor geschätzten 13 Jahren zum ersten Mal gelesen und bis seitdem sehr gespannt was daraus geworden ist. Vielleicht schaffe ich es nächste Woche zwischen den Interviews ein bisschen Zeit zu finden und mir James Camerons neuen Streifen in 3D ansehen zu können.

 

Markus Rutten – www.sounds2move.de

 

 

Link: www.darktranquillity.com