Interview mit TILO WOLFF von LACRIMOSA / 04.2005

sounds2move: In der Presseinformation ist über das neue Album zu lesen: "Lichtgestalt markiert den würdigen Höhepunkt einer bemerkenswerten Karriere." Das klingt auch ein wenig nach Abschied...

Tilo Wolff: Nein, das ist einfach der Höhepunkt in den vergangenen 15 Jahren. In 18 Jahren kommt hoffentlich das nächste Album (lacht). Nein. Im Moment ist dieses Album einfach der Höhepunkt dessen, was Lacrimosa bisher erschaffen hat.

sounds2move: Mit welchem Wort kannst du denn am besten die vergangenen 15 Jahre beschreiben?

Tilo Wolff: Segen. Und das muss ich kurz erklären: Ich sehe das alles nicht als Selbstverständlichkeit an. Ich habe mit Lacrimosa angefangen ohne viel daran zu denken, einmal dort zu stehen, wo ich heute stehe, sondern ich wollte nur um die Texte, die ich dahin geschrieben hatte, eine Soundkollage kreieren. Und dann hat sich alles über die Jahre so entwickelt. Was auch heißt, dass ich nie bei einem Plattenlabel unterschrieben habe. Ich habe gesagt, ich mache mein eigenes Label, dann bin ich nicht eingeschränkt und kann auch selbst entscheiden, ob ich eine Platte mache oder nicht. Alles ist in Eigenregie entstanden, ich kann bis heute alles selbst entscheiden und das seit 15 Jahren. Ich kann inzwischen solche Mammutproduktionen mit Chören und Orchestern während mehrmonatiger Studioaufenthalte aufnehmen. All das ist ein wahnsinniges Geschenk, mit dem ich nie gerechnet hätte. Das ist ein Segen.

sounds2move: Zu Beginn eurer Karriere war Gothic-Metal und Symphonic-Metal noch eine Gratwanderung, heute ist Gothic Trend. Und viele Bands springen ganz bewusst auf diesen Zug auf, benutzen Attribute der Szene, um Erfolg zu haben. Zum Beispiel die aktuellen Popstars. Wie stehst du dazu?

Tilo Wolff: Ich finde das, und jetzt werden alle aufschreien, nicht schlimm. Die kommen und gehen, in ein paar Jahren sind sie wieder weg. Aber in dieser Zeit haben sie ein paar Leute mit der Szene in Verbindung gebracht, die sonst nie die Szene wahrgenommen hätten. Viele Leute lernen die Szene dadurch kennen, bleiben hängen und bereichern sie auch wieder durch ihre Präsenz oder wenn sie selbst für ein Magazin schreiben oder eines machen. Es kann der Szene eigentlich nicht schaden, weil dadurch ein Spot auf sie gehalten wird, der endlich einmal nicht von der "Bild" kommt, in dem sie nicht in den Dreck gezogen wird, sondern der endlich einmal zeigt: Es ist ja offensichtlich doch etwas Gutes an der Szene. Und wenn inzwischen sogar große Plattenfirmen wie zum Beispiel die BMG ratlos dastehen und nicht mehr wissen, was sie machen sollen und jetzt bei uns an die Tür klopfen, dann ist das doch schön! Ich weiß, wie man früher mit uns Gothicbands umgegangen ist. Was nur wichtig ist: Alle, die sich in der Szene bewegen, vor allem die Macher der Magazine und die Musiker, müssen aufpassen, dass sie nicht umfallen. Sie dürfen sich nicht vom kurzfristigen kommerziellen Hype anstecken lassen und sollten auf keinen Fall auf diesen Zug aufspringen. Leider haben das schon gewisse Bands gemacht, was ich sehr schade finde. Ich hoffe, dass die meisten wichtigsten Band sich selbst treu bleiben und so gut es geht aus diesem Modetrend heraus halten, um nicht von ihm unterspült zu werden.

 

Sounds2move: Beim ersten Hören von Lichtgestalt ist mir aufgefallen: Was mit Elodia begann, scheint sich hier noch weiter zu verdichten. Das Album klingt so eingängig, leicht und auch optimistisch wie keines der Alben zuvor, es wirkt wie eine Zusammenfassung des gesamten Schaffens.

Tilo Wolff: Ja, das stimmt. Dieses Album ist im Prinzip sehr stark mit Elodia wie auch mit Satura verbunden. Man kann die Lacrimosa-Alben eigentlich in folgende Kategorien stecken: immer die ersten eines Dreier-Zyklus, die zweiten und die dritten. Das heißt: Angst ist Inferno ist Fassade, Einsamkeit ist Stille ist Echos, Satura ist Elodia ist Lichtgestalt. Das mache ich nicht absichtlich. Aber mir ist bei Inferno aufgefallen, dass ich sehr stark die Gefühle zum Ausdruck brachte, die ich auch auf Angst zum Ausdruck gebracht habe, nur anders verpackt, und dann auch bei Fassade usw. Und wenn man sich Einsamkeit, Stille und Echos anschaut, dann fällt einem auch auf, dass alle drei aus der eigentlichen Lacrimosa-Geschichte oder Entwicklung herausfallen und eine andere Seite zeigen. Das passiert relativ zufällig und hat vielleicht auch mit der Art und Weise zu tun, wie ich komponiere, bei der es vielleicht eine automatische Entwicklung gibt. Jedenfalls stimmt es so gesehen auch wieder, das Lichtgestalt eine starke Verbindung zu Elodia aufzeigt. Auch hier geht es wieder viel um Liebe, auch hier sind meine Gefühle relativ ungefiltert und nackt in die Musik eingeflossen. Es ist ein sehr dynamisches Album, ein Album der Extreme, aber auch teilweise sehr melodiös, was vielleicht dem einen oder anderem Hörer somit leichter, poppiger oder eingängiger erscheint.

sounds2move: Mit Snakeskin hatte das also weniger zu tun? Denn über die Bedeutung von Snakeskin sagtest du in einem Interview: "Ohne Snakeskin hätte es kein weiteres Lacrimosa-Album gegeben. Es war ein Ausbruch..."

Tilo Wolff: Da wurde ich falsch zitiert: Ich sagte nicht, es hätte kein Lacrimosa-Album gegeben, sondern es hätte kein Lacrimosa-Album in dieser Form gegeben. Lichtgestalt hätte einfach anders geklungen. Nachdem ich so viele Jahre auf diese Art und Weise Musik mache, also Texte schreibe und die Musik darum herum baue und für Orchester komponiere, habe ich nach Echos gesagt, ich möchte keine Konzerte geben, weil wir permanent seit Elodia auf der Bühne waren, und dass ich eine gewisse Auszeit brauche. Nach Echos habe ich erst einmal mein Studio umgebaut und dann angefangen neue Songs zu schreiben. Ich habe aber gemerkt, dass ich noch nicht ganz befreit bin und Abstand bräuchte von der Art und Weise, wie ich arbeite und ganz anders Musik machen sollte. Sprich: Dasselbe sagen, also meine Gefühle zum Ausdruck zu bringen, aber durch eine andere Arbeitsweise und in einer anderen Sprache. Etwas anderes kann ich ja auch nicht. Deshalb habe ich Snakeskin gemacht. Es war ein Ausdruck, eine Art Ferien: Einmal zuerst die Musik komponieren, nicht für große Orchester, sondern rein für elektronische Instrumente, viel an Sounds tüfteln, also all das, was ich bei Lacrimosa überhaupt nicht mache, habe ich bei Snakeskin gemacht. Und das hat dazu geführt, dass ich dann auch sehr froh war, wieder nach Hause zu Lacrimosa zu kommen, in die gemachte Hütte sozusagen. Und nur deshalb konnte ich meinen Gefühlen in der Art und Weise freien Lauf lassen, dass es ein waschechtes und vorallem so ein intensives Lacrimosa-Album wird. Ansonsten wäre immer der Kopf und eine gewisse Gewohnheit dabei gewesen, die so aber durch Snakeskin komplett ausgeschalten wurden.

sounds2move: Als "waschechtes" Lacrimosa-Album enthält Lichtgestalt natürlich auch wieder ein bestimmtes Konzept: Es gibt acht Songs, der erste Song, Sapphire, beginnt mit der Melodie des letzte nStücksausdemAlbumIEchosI,esgibtdeutscheundenglischeTexte.AllerdingswerdetihrdiesmalvorILichtgestaltIkeineSingleveröffentlichen.WarumPB

Tilo Wolff: Der Sprung von Echos zu Lichtgestalt wäre einfach zu extrem. Das erste Lied aus Lichtgestalt, "Sapphire", führt genau das fort, womit Echos endete. Der Hörer wird also direkt in Lichtgestalt hinein katapultiert. Und um das nicht zu zerstören, gibt es vor Lichtgestalt keine Single. Wir werden aber im Herbst eine Single veröffentlichen.

sounds2move: Thema von Lichtgestalt ist einmal mehr die Liebe, ein Thema, das sich ja wie ein roter Faden durch das gesamte Werk Lacrimosas zieht. Was bedeutet die Liebe für dich?

Tilo Wolff: Liebe ist die größte Kraft, die wir Menschen überhaupt erfassen können, wenn nicht sogar die größte des Universums, die alles zusammenhält. Ohne Liebe wären wir nicht in der Lage zu leben. Und wenn man sich umsieht, all die Probleme, die die Menschen mit sich oder ihrer Umwelt haben, stammen im Grunde aus dem Defizit an Liebe. Dieser Drang der Selbstverwirklichung, dieses Suchen nach Anerkennung auf verschiedensten Ebenen, sei es durch Macht, Geld oder was auch immer, ist im Moment in unserem Kulturkreis sehr modern geworden. All das ist aber nichts anderes als das Ausgleichen dieses Defizits. Und wenn man sieht, wie wir Menschen eigentlich nur nach einem suchen, Liebe, und dafür inzwischen natürlich viele Metaphern gefunden haben, dann wird einem sehr schnell klar, wo das Problem der heutigen Gesellschaft zu suchen ist und warum es soviel Psychiater und Psychologen gibt.

Diese Gesellschaft hat sich wirklich in eine ganz heftige Richtung entwickelt. Wie sie aufgebaut ist, entspricht ja nicht mehr den Bedürfnissen, die wir als Menschen brauchen. Ich brauche als Mensch nicht ein dickes Bankkonto, sondern ich brauche in erster Linie Liebe und Geborgenheit, und natürlich Nahrung, um meinen Körper am Leben zu erhalten. Heutzutage aber wird in erster Linie für Erfolg und erst in zweiter für die Befriedigung der menschlichen Gefühle gesorgt. Das finde ich sehr bedenklich. In der Musikwelt ist es leider genauso: Heutzutage möchten die meisten nicht mehr Musik machen, um etwas zum Ausdruck bringen will, sondern gehen zu Popstars oder zu Superstars, um ein Star zu werden. Und wenn es dort nicht klappt, gehen sie zu einer Modelshow usw. Am Ende stehen sie da und sind vielleicht Megastars, aber selbst komplett verkümmert und vereinsamt. Bestes Beispiel: Mariah Carey. Dann aber erst merken sie: Ich bin mein ganzes Leben dem falschen hinterhergelaufen. Das alles bringt mich dazu zu sehen, wie wichtig und wie nötig wir die Liebe haben und wie viel ich selbst wiederum davon profitiere, dass sehr viel in meiner Gefühlswelt stattfindet. Was somit auch in meine Texte und meine Musik fließt.

sounds2move: Ein ganz besonderes Lied des Albums ist in diesem Zusammenhang das Hohelied der Liebe, eine Variation des biblischen Textes von Paulus, 1. Korinther 13, 13. Das Hohelied ist ein Gedicht über die Liebe und das Liebesgedicht der Bibel schlechthin. Warum hast du ausgerechnet diesen biblischen Text gewählt?

Tilo Wolff: Das Hohelied der Liebe hat eine sehr hohe Bedeutung für mich! Der Text bringt die Definition der Liebe schlechthin zum Ausdruck. Es beschreibt die tief empfundene Erkenntnis, dass die Liebe die größte Kraft im Leben ist und immer bleiben wird. Außerdem ist es die Liebe in der Form, wie wir das Wort aus der Bibel übernommen haben, wie es in den heutigen Sprachgebrauch eingegangen ist. Wir kennen heute ja nur noch das eine Wort "Liebe", im Altgriechischen gibt es über zwanzig Wörter für das Gefühl, was wir unter Liebe verstehen. Wobei die von uns benutzte Definition gleichzusetzen ist mit der aus der Bibel und diese wiederum ist die Definition der Liebe als das Wesens Gottes. Was wir mit Liebe bezeichnen ist nichts anderes als Gott. Die Liebe ist der Ursprung für alle tiefer gehenden Gefühle des Menschen.

sounds2move: Dann ist das Hohelied der Liebe also durchaus als Schlüssellied des Albums zu sehen, indem die Aussagen aller Songs zusammengefasst, verbunden und von der persönlichen Ebene auf eine höhere, abschließende Ebene, der religiösen Ebene gebracht werden?

Tilo Wolff: Insofern ja, da hier die Antwort bei der Suche nach Liebe auf religiöser Ebene gegeben wird. Es ist die Antwort auf die Defizite des Menschen, der zwischenmenschlichen Probleme, Probleme, die der Mensch unserer Zeit mit sich und seiner Umwelt hat, die Probleme in der heutigen Gesellschaft, das, was ich auch vorhin bereits ansprach: In unserer heutigen Gesellschaft ist der Drang, sich selbst zu suchen und zu verwirklichen, so ausgeprägt, dass der Mensch versucht, alles zu ergründen. Einstein sagte einmal: Je mehr wir wissen, desto weniger wissen wir.

sounds2move: Das Lied kritisiert somit auch den Egoismus und Selbstverwirklichungsdrang der Menschen in der heutigen Gesellschaft?

Tilo Wolff: Ja...

sounds2move: .... und auch die Kirche? Denn im ersten Korintherbrief und mit dem Hohelied definierte Paulus nicht nur die Liebe, sondern kritisierte auch die Kirche und in diesem Zusammenhang erscheint das Hohelied ja sehr aktuell...

Tilo Wolff: Auf jeden Fall! Ich bin kein Fan der großen Weltkirche und auch kein Fan von ihm [dem Papst, Anm. d. Red.] gewesen. Zwar bin ich auch Mitglied der Kirche und sehr gläubig, Kirche und Religion sind meiner Meinung aber nach zu trennen. Die Kirche ist nun mal eine weltliche Institution, und das bedeutet: sie kann zu Gott führen, muss es aber auch nicht.

sounds2move: Den Originaltext hast du für deine Interpretation zum Teil verändert, teilweise ganze Passagen gestrichen.

Tilo Wolff: Jein, denn es gibt ja verschiedene Interpretationen des Hohelieds. Ich habe die Luther-Interpretation gewählt, da sie meiner Intention am nächsten steht. Passagen geändert oder gestrichen habe ich lediglich zwei oder drei und nur solche, die zu weit gingen, die mir für meinen Zweck nicht sinnvoll erschienen. Was ich aber für legitim halte, um sich künstlerisch auszudrücken.

sounds2move: Die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema Liebe scheint auf Lichtgestalt weniger offensichtlich zu sein als es auf Elodia der Fall war: Dort ging es um die Beziehung zweier Menschen, die sich verloren haben, die sich trennen und schließlich doch noch die Hoffnung auf eine zweite Chance haben. Eher scheint sich Lichtgestalt am Konzept von Echos zu orientieren.

Tilo Wolff: Ja, das ist richtig. Man kann die Titel von Lichtgestalt entweder einzeln betrachten oder aber auch in Zusammenhang zueinander: Aussagen die in einzelnen Songs gemacht wurden, werden an anderer Stelle wieder aufgegriffen, fortgeführt oder von einem anderen Standpunkt aus betrachtet.

sounds2move: ... wobei Song 5 und 6, my last goodbye und the party is over, inhaltlich gesehen wiederum sehr stark an "Alleine zu zweit" und "Am Ende stehen wir beide" aus dem Elodia-Album erinnern...

Tilo Wolff: Die Songs haben im Prinzip einen ähnlichen Ausgangspunkt, allerdings aus einem anderen Blickwinkel.

sounds2move: Abschließende Frage zum Konzept Lacrimosa, das auf den drei Säulen, Text, Musik, Layout basiert. Dazu sagtest du einmal: "Ich finde es nicht gut, wenn jemand die Musik nur in beschissener Qualität hört. Das ist, als wenn man einen Tonfilm nur als Stummfilm hören würde. Es gibt diese wunderschönen Abende, an denen das Album heraus kommt: wenn man zu Hause sitzt und weiß, alle anderen hören diese Platte jetzt auch, man kann sich verbinden. Und ich weiß, dass es vielen Fans auch so geht. Kursieren die Stücke schon vorher im Netz, ist die Magie dahin." Im Internet und auch auf eurer Homepage gibt es allerdings bereits jetzt Hörproben des neuen Albums – ist das nicht ein Widerspruch?

Tilo Wolff: Nein, denn es gibt ja nur Hörproben. Das mussten wir auch machen, weil die Platte schon wieder auszugsweise im Netz stand. Wir hatten eine Promo-CD gemacht, die mit dem Piep, und eine Woche nachdem wir sie an die Journalisten verschickt hatten stand diese schon wieder im Netz. Damit dann der geneigte Hörer, den das neue Album natürlich interessiert, nicht auf irgendwelchen Seiten suchen muss, und sich eventuell noch irgendwelche Viren einfängt, haben wir gesagt: Gut, dann stellen wir auf unsere Seite ähnliche Auszüge, da kann der Lacrimosa-Fan schon einmal reinhören. Aber: Dieser Moment, mit der fertigen CD zu Hause zu sitzen, sie in den Händen zu halten, im Booklet zu blättern, während man die Musik hört, ist trotz Hörproben ja noch nicht da. Und auf diesen Moment freue ich mich genauso wie ich hoffe, dass sich jeder freut, dem Lacrimosa etwas bedeutet.

sounds2move: Dann wünsche ich dir, euch viel Erfolg mit dem neuen Album, auf Tour und Dankeschön für das Interview!

Tilo Wolff: Bitte sehr.

Interview: Christine Schams - www.sounds2move.de / Ausarbeitung: Christine Schams und Markus Rutten - www.sounds2move.de !